Zu Beginn dieses Jahres stellte sich der gesamte Bundestag an die Seite der Jesid*innen und erkannte ihre systematische Verfolgung und Ermordung im Nordirak seit 2014 durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) als Völkermord an. „Den guten Worten der Politiker*innen müssen nun auch gute Taten folgen: Menschen, die als Opfer eines Völkermords anerkannt wurden, dürfen nicht in das Land des Völkermords abgescho-ben werden. Wir fordern einen bundesweiten Abschiebestopp für Jesid*innen. Darüber hinaus müssen Jesid*innen, die in Deutschland leben, einer dauerhafte und sichere Perspektive bekommen“, sagt Karl Kopp, Sprecher von PRO ASYL. Deshalb fordert PRO ASYL eine Aufenthaltserlaubnis aus völkerrecht-lichen und humanitären Gründen für Jesid*innen nach Para-graf 23 Aufenthaltsgesetz.
Im Beschluss des Bundestages am 19. Januar 2023 hieß es unter anderem: „Die Diaspora ist Teil unserer Gesellschaft mit all ihren Erfahrungen und Erinnerungen. Der Deutsche Bun-destag wird sich mit Nachdruck zum Schutz êzîdischen Lebens in Deutschland und ihrer Menschenrechte weltweit ein-setzen.“ Dennoch haben einige Bundesländer damit begon-nen, Geflüchtete, die bislang eine Duldung hatten, in den Irak abzuschieben. Diese Abschiebeflüge lassen alte Traumata aufleben. Besonders dramatisch war Mitte November die Abschiebung einer jesidischen Familie aus Bayern, die brutal auseinandergerissen und am selben Tag in den Irak geflogen wurde (siehe unten).
In Deutschland lebt die größte jesidische Diaspora in Europa, rund 250.000 Menschen. Offizielle Zahlen dazu, wie viele Jesid*innen aus Deutschland abgeschoben wurden, gibt es nicht. PRO ASYL schätzt, dass derzeit 5.000 bis 10.000 iraki-sche Jesid*innen ausreisepflichtig und von Abschiebungen in den Irak bedroht sind. Seit Wochen machen jesidische und andere Organisationen darauf aufmerksam, unter anderem mit einem offenen Brief an die Bundestagsabgeordneten und einem Brief an Innenministerin Nancy Faeser.
Das Schicksal der Jesid*innen ist ein eindrückliches Beispiel für eine neue Realität, die ein Völkermord schafft. Es gibt kein „zurück“ in die Zeit davor. In einem von Minderheiten und zahlreichen Konfliktlinien geprägten Gebiet wie der Herkunfts-region der Jesid*innen hat der Völkermord des „Islamischen Staats“ das sowieso fragile gesellschaftliche Gewebe zerrissen, traumatisierte Opfer stehen Nachbarn gegenüber, die poten-zielle Täter waren – und es potenziell jederzeit wieder werden können.
Die Herkunftsregion der Jesiden, der Sindjar, stellt ein strate-gisch wichtiges Grenzgebiet dar, in dem die Interessen zahl-reicher Akteure, darunter auch des Irans und der Türkei auf-einanderprallen. Die jederzeit prekäre Sicherheitslage wird sich hier nicht grundlegend ändern, solange der Konflikt in Syrien keine Lösung gefunden hat. Für die überwältigende Mehrzahl der vom „Islamischen Staat“ vertriebenen Jesid*in-nen heißt das: Sie müssen weiterhin auf unabsehbare Zeit in irakischen Flüchtlingslagern leben, die 2014/15 einmal als Nothilfslager eingerichtet wurden: nach bald zehn Jahren immer noch ein Leben in Zelten bei Sommerhitze und bei Schnee.
Auch die generelle Lage im Irak ist nach wie vor äußerst unsicher. Erst vor kurzem hat die Bundesregierung mit dieser Begründung die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes zur Bekämpfung der Terrormiliz IS und zur Stabilisierung be-schlossen. Staatliche Stellen sind nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, auch Verstöße gegen Menschenrechte im Justizsystem wie Folter und will-kürliche Festnahmen sind weit verbreitet. Terroristische Anschläge und Entführungen gehören weiterhin zum Alltag im Irak.
Zum Hintergrund:
Einen besonders erschütternden Abschiebefall gab es kürzlich in Bayern: Am 20. November wurde eine jesidische Familie aus dem Schlaf gerissen. Rund 20 Polizisten drängten in die Wohnung, sie brachten die beiden volljährigen Mädchen gewaltsam zu Boden. Die Eltern und die jüngeren Geschwister (neun und sieben Jahre alt) wurden in einem Polizei-Trans-porter zum Flughafen Frankfurt gefahren. Dort dauerte es nach Angaben der Familie Stunden, bis sie unter Drohungen im Flugzeug saßen und das Boarding für die anderen Passa-giere beginnen konnte. Über Istanbul wurde die Familie nach Bagdad gebracht. Dort wurden sie am Flughafen erst von der Polizei festgehalten und dann nachts um 4 Uhr mittellos auf die Straße gesetzt, berichtete die Familie später.
Die zwei volljährigen jungen Frauen machen Ausbildungen in der Pflege und wurden nicht abgeschoben. Eine von ihnen hatte aber einen Nervenzusammenbruch und wurde in Handschellen in die Psychiatrie gefahren.
(Quelle: proasyl.de)