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Pro Asyl: Geflüchtet aus der Sklaverei – Kein Schutz für Semira?

Bild: pixabay.com
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Semira* (29) ist eine junge Frau. Sie kommt aus Äthiopien und hat 2022 in Deutschland Asyl beantragt. Ihr Lebensweg ist ge-prägt von massiven Menschenrechtsverletzungen, doch ihr Antrag auf Schutz wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt. Nun kämpft Semira mit Unter-stützung des PRO ASYL Rechtshilfefonds im Klageverfahren vor Gericht um das Recht, hier in Deutschland sicher leben zu dürfen. Anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen am 25. November macht PRO ASYL auf ihr Schicksal – das leider von vielen Frauen geteilt wird – und die dahinterstehenden strukturellen Probleme aufmerk-sam. PRO ASYL fordert, dass frauenspezifische Fluchtgründe, insbesondere geschlechtsbezogene Gewalt, endlich adäquat in die Entscheidungspraxis des BAMF mit einbezogen werden.

 

Bereits mit neun Jahren wird Semira Opfer einer Genitalbe-schneidung, die bis heute Schmerzen verursacht. Als sie 17 Jahre alt ist, soll sie gegen ihren Willen einen Mann heiraten, der mehr als doppelt so alt ist wie sie. Ihre Hoffnung, weiter zur Schule zu gehen und ein selbstbestimmtes Leben zu füh-ren, wird zerschlagen. Als die Hochzeit bevorsteht und die Einladungen überbracht sind, sieht Semira nur einen Ausweg: die Flucht. Eine Bekannte vermittelt sie als Haushaltskraft an eine Familie in die Vereinigten Arabischen Emirate. Semira hofft auf Arbeit und Sicherheit.

 

Nach der Flucht ist vor der Flucht

 

Was stattdessen folgt, ist ein weiteres Kapitel schwerster Miss-handlung. Viele Jahre lang lebt Semira in der Familie unter extremen Bedingungen – ohne Entlohnung, ohne Rechte, oh-ne Freiheit. 2023 berichtet sie beim Bundesamt darüber: »Ich war die zehn Jahre bei demselben Arbeitgeber, ich habe ohne Gehalt gearbeitet, ich musste so viel arbeiten, bekam keinen Urlaub, nicht genug Schlaf. Wenn ich krank war, bekam ich keine Behandlung. […] Ich wurde geschlagen. […] Ich bekam nicht genug zu essen. Meine Arbeit ging über meine Kraft.«

 

An ihrem vermeintlichen Zufluchtsort beginnt Semiras Ar-beitstag um fünf Uhr morgens und endet erst spät in der Nacht. Als sie um Arbeitslohn bittet, erklärt ihr die Arbeitge-berin, dass der Schleuser bereits Geld bekommen hätte. Der Arbeitgeber behält ihren Pass, kontrolliert ihre Bewegungen und verhindert so jede Flucht. Und schlimmer noch: Auch sexuell wird Semira von dem Mann der Familie missbraucht. Semira wird wie eine Sklavin gehalten und jeder Versuch, sich zu befreien, bleibt lange Zeit aussichtslos.

 

Erst 2022 ergibt sich dann doch eine Gelegenheit zur Flucht, als die Familie beschließt, Urlaub in Deutschland zu machen und Semira dabei ist. Am Tag vor der Rückreise geht die Fami-lie einkaufen, Semira berichtet: »… sie haben mich mitgenom-men, damit ich die Sachen trage. Diese Gelegenheit habe ich genutzt und bin einfach in eine Straßenbahn gesprungen und weg.« Tage später beantragt die junge Frau Asyl. Seither lebt Semira in großer Angst, zurückkehren zu müssen.

 

Gibt es keinen Verfolgungsgrund?

 

Das BAMF jedoch verweigerte Semira einen Schutzstatus. Die Flüchtlingseigenschaft lehnt das Amt ab. Denn es fehle »be-reits an einem Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 AsylG«. Das ist eine kühne Behauptung, denn einer der gesetzlichen Ver-folgungsgründe ist die »Zugehörigkeit zu einer sozialen Grup-pe«. Das BAMF ignoriert, dass Semira immer wieder systema-tischer Gewalt ausgesetzt war, die vor allem einen einzigen, simplen Grund hatte: Sie ist eine Frau. Die Beschneidung, die Zwangsverheiratung, schließlich die Versklavung mit sexuel-lem Missbrauch – all dies geschieht Mädchen und Frauen, die nichts anderes getan haben, als Mädchen und Frauen zu sein. Mit anderen Worten: Hier geht es um geschlechtsbezogene Gewalt.

 

Im deutschen Recht ist längst geklärt, dass eine Verfolgung al-lein aufgrund des Geschlechts ausreicht, um den Verfolgungs-grund »Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe« zu erfüllen und damit eine Flüchtlingsanerkennung zu ermög-lichen. Zuletzt hat ein EuGH-Urteil von Januar 2024 ausdrück-lich bestätigt, dass die Frauen eines Landes als »einer be-stimmten sozialen Gruppe« zugehörig angesehen werden kön-nen. In Semiras Fall setzt sich das BAMF mit dieser Frage aber nicht einmal auseinander.

 

Keine Rückkehrgefährdung bei Zwangsehe?

 

Auch eine Rückkehrgefährdung verneint das Amt, als Semira berichtet, dass der Mann, den sie heiraten sollte, sie bedroht hätte: »Keiner kann mich dort schützen, ich habe Angst, dass er mich umbringt.«

 

Das Bundesamt teilt diese Sorge nicht und argumentiert: »Vielmehr betrachtet der Mann offenbar das von ihm an die Familie der Antragstellerin gezahlte Geld als ‚Fehlinvestition‘ und will das Geld zurückerhalten oder das ursprüngliche Ziel der Zahlung erreichen.« Offen bleibt, wie es sich das Bundes-amt vorstellt, dass Semira nach ihrer Rückkehr für einen fairen Abschluss dieses Geschäfts sorgen soll. Dass mit einer gekauf-ten Heirat in der Regel auch ein mit Gewalt durchgesetzter Be-sitzanspruch des Mannes einhergeht, kommt der Entscheide-rin des BAMF offenbar nicht in den Sinn.

 

Ist die Versklavung im Drittland unwichtig?

 

Die Qualen, die Semira in den Vereinigten Arabischen Emira-ten erlitt, spielen aus Sicht des Bundesamtes für die Frage, ob sie Schutz vor der Abschiebung nach Äthiopien erhält, so gut wie keine Rolle. Tatsächlich geht es asylrechtlich schlussend-lich immer um die Gefahr, im Herkunftsland – nicht in einem Drittland – verfolgt zu werden. Und für das Bundesamt folgt aus Semiras Erlebnissen in Dubai keine Verfolgungsgefahr in Äthiopien.

 

Das Bundesamt hält sich dementsprechend nicht lange mit den Erlebnissen der jungen Frau oder deren Folgen auf, son-dern erklärt knapp und nüchtern, dass in Äthiopien keine er-neute Gefährdung durch Menschenhändler zu erwarten sei, weil »die Forderungen der Schleuser durch die Arbeitgeber-seite befriedigt wurden«. Erneut in ausbeuterische Verhältnis-se zu geraten, könne Semira verhindern, da sie »nun das Ge-schäftsgebaren derselben kennt und gewarnt« sei.

 

Doch diese Einschätzung ignoriert die strukturellen Hürden und sozialen Realitäten, mit denen Frauen wie Semira kon-frontiert sind. Laut einem Länderbericht des US Department of State sind Frauen in Äthiopien, oft durch geringere Bil-dungsmöglichkeiten und gesetzliche Beschränkungen, in ihrer wirtschaftlichen Selbstständigkeit eingeschränkt. Der Zugang zu bezahlter Arbeit, Krediten oder der Möglichkeit, ein eigenes Unternehmen zu führen, ist für Frauen wie Semira stark be-grenzt. Als alleinstehende junge Frau, die ihr Leben bisher nie selbständig und selbstbestimmt führen durfte, keine Schulbil-dung genießen konnte und keinen Beruf erlernt hat, läuft sie große Gefahr, erneut in ausbeuterische Strukturen zu geraten.

 

Während das Bundesamt zwar die aktuellen politischen Span-nungen und Kriegshandlungen beschreibt, auch im Hinblick auf Semiras ethnische Zugehörigkeit, wird die spezifische Ge-fährdung junger, alleinstehender Rückkehrerinnen in keinem Satz thematisiert. Diese Ignoranz gegenüber geschlechts-spezifischen Risiken blendet die tatsächlichen Schutzbedürf-nisse vollkommen aus.

 

Erfahrung in der Haushaltsführung?

 

Nicht nur, dass das Bundesamt die Erlebnisse in Dubai zu ei-nem abgeschlossenen Kapitel erklärt: Es verwendet die zehn Jahre andauernde Gefangenschaft in zynischer Weise sogar als Argument gegen Semira: Um zu begründen, warum Semira in Äthiopien leicht Arbeit finden und so selbstständig leben könnte, führt die Behörde allen Ernstes ihre »langjährige Er-fahrung in der Haushaltsführung« an. Ungerührt lehnt das BAMF nicht nur den Flüchtlingsschutz, sondern auch ein Ab-schiebeverbot ab, weil Semira »jung, gesund und arbeitsfähig« sei. Wie sich das Bundesamt vor diesem Hintergrund Semiras Lebensunterhaltssicherung auf Basis ihrer Erfahrungen vor-stellt, wird im Bescheid nicht weiter ausgeführt. Tatsächlich ist Semira nach Einschätzung ihrer Sozialarbeiterin eine zutiefst traumatisierte junge Frau, die niemals ein selbstbestimmtes Leben in Würde führen durfte. Bislang ist es leider nicht gelungen, für Semira einen geeigneten Psychotherapieplatz oder auch nur einen Gutachtertermin zu erhalten.

 

Gewalterfahrungen von Frauen auf der Flucht: doppelt und dreifach

 

Semiras Fall zeigt, dass Fluchtgründe auch während und nach der Flucht entstehen können. Viele Frauen, die in Deutschland um Schutz nachsuchen, sind zuvor mehrfach zum Ziel sexua-lisierter oder geschlechtsbezogener Gewalt geworden. Es ist notwendig, frauenspezifische Gewalt in dieser Häufung, in ih-rem Zusammenwirken zu erkennen und zu berücksichtigen – anstatt, wie das Bundesamt es tut, eine erfolgte Misshandlung zynisch als Berufserfahrung umzudeuten und obendrein als Argument gegen einen Schutzanspruch zu verwenden.

 

Insbesondere solche Gewalterlebnisse, die während der Flucht oder infolge eines Fluchtversuchs in einem Drittland stattfinden, werden im Asylverfahren häufig nicht berücksich-tigt oder sie kommen gar nicht erst zur Sprache. Ob es körper-liche oder sexuelle Misshandlungen an der EU-Grenze sind, Übergriffe im Aufnahmelager oder Vergewaltigungen in einem libyschen Gefängnis – solche Gewalttaten geschehen täglich hundertfach. Für den Schutzanspruch der Frauen im Asylver-fahren spielen diese Erfahrungen meist keine Rolle. In der Pra-xis fallen deshalb etliche von Gewalt betroffene Frauen im Asylverfahren durch das Raster. Lediglich über den Nachweis der psychischen Folgen – oft schwere Traumatisierungen – kann manchmal ein humanitäres Aufenthaltsrecht auf Zeit erwirkt werden. Oft jedoch, wie in Semiras Fall, besteht die Schwierigkeit darin, überhaupt einen geeigneten Therapie-platz zu finden, um die Traumatisierung professionell diagnos-tizieren und attestieren zu lassen.

 

Frauen vor Gewalt schützen, Sicherheit geben!

 

Die juristischen Expertinnen Johanna Mantel und Anne Pertsch haben 2024 in einem für PRO ASYL erstellten Gutach-ten ausgeführt, dass geschlechtsspezifische Gewalt, auch wenn sie in einem Drittstaat geschieht, angemessen in die asylrechtliche Betrachtung einbezogen werden muss: »Schutzlücken schließen – Zur Erforderlichkeit eines Bleibe-rechts für Überlebende von sexualisierter und geschlechtsbe-zogener Gewalt auf der Flucht.« Danach sind Staaten ver-pflichtet, die in verschiedenen menschenrechtlichen Verträ-gen vorgesehenen Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen für Überlebende von sexualisierter und geschlechtsbezogener Gewalt zu gewährleisten, wenn diese in dem Staat Zuflucht su-chen – und zwar unabhängig davon, wo sie die Gewalt erlitten haben.

 

Im Rahmen der Istanbul Konvention hat sich die Bundesrepu-blik verpflichtet, alle Frauen vor Gewalt zu schützen. Hier mangelt es noch immer erheblich an der Umsetzung der schon Ende 2022 erhobenen verbindlichen Forderungen der Europarats-Expertenkommission GREVIO. Zum Schutz asylsu-chender Frauen vor Gewalt im Sinne der Istanbul Konvention gehört es unter anderem, die Frauen bestmöglich zu beraten, bei der Verarbeitung ihrer Erfahrungen zu unterstützen, Hei-lung zu ermöglichen und ein eigenständiges, wirtschaftlich unabhängiges Leben zu fördern. Zentral dafür ist aufenthalts-rechtliche Sicherheit. Die Istanbul Konvention verlangt im Übrigen ausdrücklich die »geschlechtersensible« Durchfüh-rung von Asylverfahren.

 

Für Semira gibt es auch zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland noch keine Sicherheit. Das Bundesamt, das hier von einer Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifisch Ver-folgte und Opfer von Menschenhandel (!) vertreten wird, ist von einer geschlechtssensiblen Betrachtung ihrer Erlebnisse weit entfernt. PRO ASYL unterstützt Semira über den Rechtshilfefonds in ihrem Klageverfahren.

 

(Quelle: proasyl.de)


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