
„Das heutige Urteil ist ein Paukenschlag! Es ist zwar seit Jah-ren bekannt, dass Griechenland Schutzsuchende systematisch mit brutaler Gewalt illegal zurückweist oder auf dem offenen Meer aussetzt. Konsequenzen gab es für Griechenland bisher jedoch nicht. Damit muss ab heute Schluss sein: Der EGMR hat Griechenland für seine Zurückweisungspraxis unmissver-ständlich verurteilt“, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
„Das Urteil sendet eine deutliche Botschaft an ganz Europa: Menschenrechte sind auch an der Grenze einzuhalten! Das muss von Athen über Warschau bis nach Brüssel gehört wer-den. Denn was wir erleben, ist eine Erosion der Menschenrech-te an den Außengrenzen, illegale Pushbacks sind weit verbrei-tet. Auch deutsche Politiker und Politikerinnen sollten genau hinschauen und sich zu Herzen nehmen, was heute in Straß-burg entschieden wurde“, erläutert Wiebke Judith.
PRO ASYL fordert: EU-Kommission muss Vertrags-verletzungsverfahren gegen Griechenland einleiten
In seinem heutigen Urteil (A.R.E. gegen Griechenland, 15783/21) hat der Gerichtshof Griechenland wegen der Zu-rückweisung einer türkischen Asylsuchenden verurteilt, die 2019 über den Grenzfluss Evros/Meriç nach Griechenland ge-flohen war. Das Gericht hat außerdem festgestellt, dass grie-chische Behörden Schutzsuchende zum damaligen Zeitpunkt systematisch ohne individuelle Prüfung in die Türkei zurück-gewiesen haben.
„Die Pushback-Politik Griechenlands bekommt seit Jahren Rü-ckendeckung aus Brüssel. Die EU-Kommission muss jetzt ihrer Pflicht als Hüterin der Verträge nachkommen: Sie darf nicht mehr nur ihre ‚Besorgnis zum Ausdruck bringen‘, sondern muss ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland einleiten“, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
Zudem fordert PRO ASYL, dass die europäische Finanzierung des griechischen Grenzregimes beendet werden muss. Entsprechende Gelder an Griechenland müssen eingefroren werden und dürfen erst wieder freigegeben werden, wenn die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten durch griechi-sche Grenzschutzbehörden garantiert ist. Schließlich muss auch Frontex Konsequenzen ziehen und darf sich nicht weiter-hin an illegalen Zurückweisungen beteiligen. Sämtliche Fron-tex-Einheiten müssen aus Griechenland abgezogen werden. Auch die Bundesregierung muss das Bundespolizei-Personal umgehend aus Griechenland abziehen.
Fall: Griechische Sicherheitsbehörden schieben Frau über den Grenzfluss in die Türkei zurück
Bei der Klägerin in dem Verfahren A.R.E. gegen Griechenland (15783/21) handelt es sich um eine türkische Grundschul-lehrerin, die wegen angeblicher Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung in der Türkei verfolgt wurde. Sie floh 2019 über den Grenzfluss Evros/Meriç nach Griechenland und suchte dort Schutz. Ihr Asylgesuch wurde von den griechischen Behörden ignoriert. Sicherheitskräfte inhaftierten sie für einige Stunden, nahmen ihr sämtliche persönliche Gegenstände ab und scho-ben sie schließlich mit einem Boot über den Grenzfluss Evros/Meriç zurück in die Türkei, wo sie ins Gefängnis kam.
Der Griechische Flüchtlingsrat (GCR), der die Klägerin auch vor dem EGMR vertritt, hat in ihrem Namen in Griechenland Straf-anzeige gestellt, die jedoch mit der pauschalen Begründung abgewiesen wurde, dass „die griechische Polizei keine Push-back-Praktiken anwendet“.
Gerichtshof verurteilt Verstöße gegen Menschenrechts-konvention
Der EGMR hat nun in seinem Urteil mehrere Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) festge-stellt: Die Zurückweisung ohne individuelle Prüfung stellt einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) dar. Die Inhaftierung von A.R.E. verstößt gegen Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) , weil es sich um eine informelle Inhaftierung ohne Rechts-grundlage handelte. Zusätzlich hat der Gerichtshof festge-stellt, dass das griechische Rechtssystem A.R.E. keinen wirksa-men Rechtsbehelf ermöglicht hat (Verstoß gegen Art. 13 EMRK – Recht auf wirksame Beschwerde).
In einem zweiten Urteil (G.R.J. gegen Griechenland (15067/21) hat der Gerichtshof heute die Beschwerde eines afghanischen Asylsuchenden abgewiesen, der 2018 als unbegleiteter Min-derjähriger von griechischen Behörden auf dem offenen Meer in einem manövrierunfähigen Schlauchboot ausgesetzt wor-den war. Der Gerichtshof hat zwar anerkannt, dass Pushbacks auf den griechischen Inseln damals systematische Praxis grie-chischer Behörden waren. Allerdings hat er es nicht als erwie-sen angesehen, dass der Beschwerdeführer G.R.J. Opfer eines Pushbacks wurde.
Beim EGMR sind viele Individualbeschwerden von Schutzsu-chenden anhängig, die Verletzungen der Europäischen Men-schenrechtskonvention wegen illegaler Zurückweisungen in Griechenland geltend machen. Das heutige Urteil A.R.E. gegen Griechenland (15783/21) stellt daher eine Grundsatzent-scheidung dar, auch wenn es eine Einzelfallentscheidung ist.
Hintergrund: Griechenlands illegale Pushbacks sind seit vielen Jahren öffentlich bekannt
Schutzsuchende ohne Prüfung des Einzelfalls zu entführen, zu misshandeln, sie gewalttätig in die Türkei zurückzuschieben oder sie auf dem offenen Meer auszusetzen ist seit Jahren sys-tematische Praxis griechischer Behörden und wurde tausend-fach von Nichtregierungsorganisationen und Journalist*innen dokumentiert. Allein für den Zeitraum zwischen März 2020 und März 2023 hat die Rechercheagentur Forensic Architec-ture mehr als 2.000 verifizierte Vorfälle dokumentiert, bei de-nen 55.445 Schutzsuchende in manövrierunfähigen Schlauch-booten oder Rettungsinseln auf dem offenen Meer ausgesetzt wurden. Die New York Times hat im Mai 2023 sogar Videoauf-nahmen eines solchen ‚Driftbacks‘ auf der Insel Lesbos veröffentlicht.
Auch das Antifolterkomitee des Europarats (CPT) hat in sei-nem letzten Bericht erneut bestätigt, dass solche Drift- und Pushbacks systematisch stattfinden. Und der UN-Sonderbe-richterstatter für die Rechte von Migrant*innen stellte bereits 2022 fest, dass „in Griechenland Zurückweisungen an Land- und Seegrenzen de facto zur allgemeinen Politik geworden [sind]“. Nichtsdestotrotz leugnet die griechische Regierung bisher beharrlich, dass solche illegalen Zurückweisungen stattfinden.
EU-Kommission beschränkt sich bisher auf „Besorgnis“
Recherchen von NDR und WDR haben Anfang 2024 aufge-deckt, dass auch Frontex-Einheiten weiterhin an Drift- und Pushbacks in Griechenland beteiligt sind. Die Vorwürfe wur-den vom Grundrechtsbeauftragten von Frontex in einem in-ternen Untersuchungsbericht bestätigt. Die EU-Kommission hat bisher immer nur ihre „Besorgnis“ zum Ausdruck gebracht und Griechenland ermahnt, die Vorwürfe aufzuklären. Sank-tionen gegen Griechenland wegen der massiven Rechtsver-letzungen im Rahmen von Pushbacks wurden jedoch bisher nicht verhängt.
(Quelle: proasyl.de)