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BIÖG: Weibliche Genitalverstümmelung im Asylverfahren – Rechtsprechung, Schutz und Beratung

Bild: pixabay.com
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Weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM; auch Female Genital Mutilation/Cutting, FGM/C oder FGM_C) ist nicht nur eine gravierende Menschenrechtsver-letzung, sondern auch ein wiederkehrendes Thema im Kon-text von Asylverfahren. Mädchen und Frauen fliehen vor einer drohenden FGM oder suchen Schutz vor den psychischen und physischen Folgen einer bereits durchgeführten FGM. Dieser Text erläutert die rechtliche Situation von FGM im Asylverfah-ren, die besonderen Schutzbedürfnisse der Betroffenen und die Notwendigkeit verlässlicher Informationen für Beratungs-stellen.

 

Rechtsprechung

Nach § 3 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) wird Flüchtlings-schutz gewährt, wenn eine begründete Furcht vor Verfolgung aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, politischer Über-zeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe besteht. FGM gehört in die Kategorie der Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, insbesondere wenn sie mit geschlechtsspezifischer Verfolgung einhergeht. In § 3b Abs. 1 Nr. 4b AsylG heißt es: Eine „Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimm-ten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft“.

 

Die Rechtsprechung erkennt sowohl die drohende Durch-führung als auch die gravierenden Folgen einer bereits erlitte-nen FGM bei Gefahr der erneuten Verletzung bei Rückkehr in das Herkunftsland als eine solche geschlechtsspezifische Ver-folgung an. Maßgeblich ist hierbei, dass staatlicher Schutz nicht gewährleistet ist: In vielen Herkunftsländern wird FGM toleriert oder durch kulturelle Normen gefördert, wodurch betroffene Frauen und Mädchen schutzlos bleiben. Insbesondere existiert kein „Konzept der alleinstehenden Frau“ in den zumeist rein patriarchalischen Gesellschaften. Eine alleinstehende Frau wird von der sie umgebenden Ge-sellschaft als andersartig angesehen, diskriminiert, verfolgt und Gewalt ausgesetzt sein, da sie keinen männlichen Schutz-akteur hat wie etwa einen Vater, Bruder, Onkel, Großvater oder aber Ehemann. Eine Flucht innerhalb des Staates ist daher nicht durchführbar, weil die betroffene Frau sich nicht allein eine Zukunft aufbauen kann.

 

Nach der EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) werden Frauen, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt wie FGM gewor-den sind, als besonders schutzbedürftig eingestuft. Dies be-deutet, dass spezielle Verfahrensrechte gelten:

 

  • Betroffene Frauen können z. B. eine Anhörung durch speziell geschulte weibliche Sonderbeauftragte beantra-gen.
  • psychosoziale und medizinische Unterstützung durch die Aufnahmestrukturen bereitgestellt werden sollte.
  • auf die traumatischen Erlebnisse im gesamten Asylverfahren Rücksicht genommen werden muss.

 

Für Mädchen, die Gefahr laufen, in ihrem Herkunftsland be-schnitten zu werden, wird FGM als eine Form der Folter und unmenschlichen Behandlung anerkannt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prüft im Asylverfahren, ob bei einer Rückführung die Gefahr einer Beschneidung besteht. Dabei sind folgende Aspekte relevant:

 

Individuelle Gefahr: Das Mädchen oder die Frau muss durch detailreiche Schilderungen glaubhaft machen, dass die Durch-führung der Beschneidung konkret droht.

Unzureichender Schutz durch den Herkunftsstaat: Selbst wenn die Praxis offiziell verboten ist, reicht dies oft nicht aus, um Schutz zu gewährleisten, wenn gesellschaftliche Struktu-ren die Durchführung weiterhin fördern.

 

Schutz

In Fällen, in denen der Herkunftsstaat Gesetze gegen FGM er-lassen hat, wird geprüft, ob diese wirksam umgesetzt werden und ob die betroffene Person Zugang zu Schutzmöglichkeiten hat. Ist dies nicht der Fall, kann dies die Grundlage für eine Asylanerkennung sein.

 

Beispielsweise hat das VG Leipzig mit Urteil vom 11.04.2024 eine Flüchtlingsanerkennung wegen drohender FGM im Sene-gal zugesprochen, denn der Frau drohte dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung in Form schwerster Verletzungen des Körpers und der sexuellen Selbstbestimmung. In den ost- und südsenegalesischen Pro-vinzen ist die weibliche Genitalverstümmelung weit verbreitet (in der Provinz Kedougou sind bis zu 90 % der Frauen betrof-fen). Weder der Staat noch ein anderer Akteur sei in der Lage, effektiven Schutz zu gewähren. Die Strafverfolgung sei im Er-gebnis ineffektiv und die Generalprävention funktioniere nicht.

 

Oftmals müssen ärztliche Atteste beigebracht werden, damit die betroffene Frau den Grad der Verletzung (Typ I bis IV) beweisen kann. Dafür ist die Vorstellung bei einer Gynäkologin oder einem Gynäkologen notwendig. Die Fristen zur Vorlage dieser Stellungnahmen können beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Antrag verlängert werden und werden von dort auch bezahlt. Es ist jedoch anzumerken, dass Frauen während des Asylverfahrens fortlaufend Krankenscheine und eine Gesundheitsversorgung vom Sozialamt erhalten, die alle notwendigen Behandlungen abdecken (s. §§ 4 + 6 AsylbLG).

 

Eine Anerkennung aufgrund schwerwiegender gesund-heitlicher Folgen ist ebenfalls immer möglich. Frauen, die be-reits Opfer von FGM geworden sind, können ebenfalls Schutz beantragen, wenn sie glaubhaft machen können, dass sie noch heute gesundheitliche oder psychische Folgen ertragen müssen. Oftmals leiden die Frauen täglich beim Wasserlassen oder haben erhebliche Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder beim Menstruieren. Es entwickeln sich nach einer vollzo-genen FGM oftmals Folgeerkrankungen wie Zystenbildung und andere erhebliche körperliche Beschwerden sowie psychische Probleme.

 

Hierzu gehören auch:

  • Chronische Schmerzen und körperliche Beeinträch-tigungen
  • Psychische Traumata wie posttraumatische Belastungs-störungen (PTBS)
  • Das Risiko erneuter Gewalt, z. B. bei einer weiteren Be-schneidung (Re-Infibulation) nach der Geburt

Beratung

Zu den Erfahrungen in der Praxis gehört, dass Betroffene von sich aus das Thema nicht ansprechen, da sie es als wenig re-levant einstufen. Das BAMF fragt in der Anhörung explizit nach Verletzungen durch FGM, wenn es eine hohe Prävalenz für das Herkunftsland gibt. Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken, dass FGM nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent statt-findet, sondern ein weltweites Problem darstellt.

 

Die EU-Aufnahmerichtlinie legt verbindliche Standards für die Behandlung schutzbedürftiger Personen im Asylverfahren fest. Für FGM-Überlebende bedeutet dies konkret:

 

  • Medizinische Versorgung: Frauen mit physischen und psychischen Folgen von FGM müssen Zugang zu speziali-sierter Gesundheitsversorgung erhalten.
  • Sichere Unterbringung: Betroffene Frauen müssen in Un-terkünften untergebracht werden, die ihre Sicherheit ge-währleisten und den Zugang zu Unterstützungs-angeboten ermöglichen.
  • Schulungsmaßnahmen: Behörden und Institutionen, die mit den Betroffenen arbeiten, sollten in geschlechts-spezifischen Themen geschult sein.

Beratungsstellen spielen eine Schlüsselrolle bei der Unter-stützung von Frauen, die vor FGM fliehen oder mit den Folgen leben. Sie bieten:

  • Rechtliche Beratung – über die Möglichkeiten eines Asylantrags und die Anerkennung geschlechtsspezifi-scher Verfolgung
  • Psychosoziale Betreuung – Unterstützung bei der Verar-beitung traumatischer Erlebnisse und der Integration in das Aufnahmeland
  • Aufklärung über Rechte – Informationen über besondere Schutzmechanismen im Asylverfahren
  • Daher benötigen Beratungsstellen kontinuierlich aktua-lisierte Informationen über die derzeitigen Entwicklungen in der Rechtsprechung.

 

Bedeutend ist auch die Aufklärung über die Strafbarkeit der FGM-Verletzung in Deutschland und auch die Strafbarkeit der sogenannten „Ferienbeschneidung“. Nach § 226a StGB macht sich nicht nur die beschneidende Person strafbar, sondern auch die Eltern.

 

FGM stellt eine erhebliche Herausforderung für das Asylsystem dar. Die Anerkennung als Fluchtgrund zeigt die Notwendigkeit, Frauen und Mädchen vor geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen. Es ist jedoch ebenso wichtig, die besonderen Schutzbedürfnisse von bereits betroffenen Frauen anzuer-kennen und ihnen ein sensibles Asylverfahren zu ermöglichen. Beratungsstellen, Behörden und die Justiz müssen eng zu-sammenarbeiten, um ein gerechtes und menschenwürdiges Verfahren sicherzustellen. Nur durch den Zugang zu verläss-lichen Informationen, medizinischer Versorgung und psycho-sozialer Unterstützung können betroffene Frauen eine neue Perspektive erhalten und ein Leben in Würde führen.

 

 (Den gesamten Artikel mit weiterführenden Literaturhinweisen findet man hier)


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