· 

Europas Werk und Deutschlands Beitrag: Wie der EU-Asylkompromiss das Recht auf Asyl aushöhlen könnte

Bild: pixabay.com
Bild: pixabay.com

Menschenrechte werden in stürmischen Zeiten erkämpft. Und bleiben umkämpft. Wir sind aktuell Zeug:innen davon, wie in der Flüchtlingspolitik – wieder einmal – menschenrechtlich erkämpfte Prinzipien in rasanter Geschwindigkeit offen infrage gestellt werden. Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte in der Sendung Markus Lanz: »Vielleicht müssen wir tatsächlich mal darüber nachdenken, ob die Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention so noch funktionieren«. Die Flüchtlingskonvention sei in den 1950er Jahren entstanden und man müsse fragen, ob sie im Jahr 2023 mit ihren individuellen Verfahren noch so Sinn mache. Spahn wollte bewusst provozieren. Er leitete sein Statement damit ein, er werde für diese Aussage »1000 Shitstorms« bekommen. Ist es ratsam sein Statement zu verbreiten, um ihm zu widersprechen? Spielt man damit nicht seiner Aufmerksamkeitsstrategie in die Hände? Die Gefahr besteht. Noch gefährlicher ist es aber, wenn keine roten Linien mehr gezogen werden. Die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) waren die unmittelbare Reaktion der Vereinten Nationen und Europas auf die Shoa und das Scheitern der internationalen Staatengemeinschaft, die viele Schutzsuchende an den Grenzen abgewiesen hatte. Als das Schiff St. Louis 1939 mit fast 1.000 jüdischen Flüchtlingen an Bord versuchte, in karibischen, US-amerikanischen und kanadischen Häfen anzudocken, zeigte sich kein Staat aufnahmebereit. Das Schiff kehrte nach Europa zurück und viele der Passagiere fielen ihren Nazi-Verfolgern in die Hände. Nicht mehr als 250 überlebten den Krieg. Solche Erfahrungen flossen in die Debatten über die Genfer Flüchtlingskonvention ein, die auf einer UN-Sonderkonferenz 1951 verabschiedet wurde, und haben ihren Niederschlag unter anderem im Non-Refoulement-Verbot gefunden (Art. 33 GFK). Das Recht auf ein individuelles und rechtsstaatliches Verfahren soll garantieren, dass Schutzsuchende nicht von der politischen Willkür der Nationalstaaten abhängig sind, sondern einklagbare Rechte haben. Diese bewusste Einschränkung der Souveränitätsrechte von Territorialstaaten war ein zivilisatorischer Fortschritt.

 

Doch das Flüchtlingsrecht steht unter Druck. Und Spahns Gedankenspiel ist nicht ohne Vorbild. Die GFK und EMRK werden in Ungarn durch Viktor Orbán und die Fidesz-Partei, in Großbritannien durch die Tories und in Österreich durch die ÖVP und FPÖ in Frage gestellt. Zugleich gab es in den vergangenen Jahren offene Angriffe auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen seiner Rechtsprechung zum Migrationsrecht vor 2015. Die Urteile des Gerichts nach 2015, in denen Schutzsuchenden kaum noch Rechte zuerkannt werden, demonstrieren eindeutig, wie der reaktionäre Wind in Europa Einzug in Straßburg gefunden hat. An den europäischen Außengrenzen von Griechenland, Italien, Kroatien, Polen, Ungarn und Spanien wird jeden Tag und systematisch geltendes Recht gebrochen. Dana Schmalz nannte das auf diesem Blog zutreffend die »andere Rechtsstaatlichkeitskrise« der Europäischen Union. Verteidiger:innen der Menschenrechte, Anwält:innen und Flüchtlingsorganisationen werden bürokratisch traktiert, gewaltsam angegriffen und kriminalisiert. Die NGO Mare Liberum, die unter anderem Pushbacks dokumentierte, gab vor einigen Tagen bekannt, wegen dieser Zustände die Arbeit einzustellen.

 

Als SPD, Grüne und FDP 2021 ihren Koalitionsvertrag unterzeichneten, wollten sie dieses »Leid an den Außengrenzen« beenden. Nichts weniger als einen »Paradigmenwechsel« versprach die Ampel. Seit kurzer Zeit ist nun bekannt, dass die Bundesregierung von diesem Vorhaben entschieden abgerückt ist. In einem ersten Schritt hat sie eine äußerst restriktive Verhandlungsposition zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) eingenommen, die Anfang Juni im Rat der Europäischen Union debattiert wird (das entsprechende Prioritätenpapier hat FragDenStaat veröffentlicht). Vor dieser Reform, die durch den »New Pact on Migration and Asylum« der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen im September 2020 angestoßen wurde, warnen Menschenrechtsorganisationen bereits seit Jahren, aber erst jetzt wird die Reform breiter in Deutschland diskutiert und fälschlicherweise als »Faeser-Plan« bezeichnet. Die Kritik an dem EU-Asylkompromiss, der faktisch den EU-Türkei-Deal und Teile des deutschen Asylkompromisses der 1990er Jahre auf ganz Europa ausdehnen wird, findet im Verhandlungspapier der Ampel keine Berücksichtigung. Von dem Versprechen der Ampel-Regierung aus ihrem Koalitionsvertrag (»Auf dem Weg zu einem gemeinsamen funktionierenden EU-Asylsystem wollen wir mit einer Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten vorangehen und aktiv dazu beitragen, dass andere EU-Staaten mehr Verantwortung übernehmen und EU-Recht einhalten«) ist keine Rede mehr. Nach der Aussage von Jens Spahn zur GFK gab es deutliche Kritik von Bundestagsabgeordneten aus den Reihen der SPD und der Grünen. Dennoch sind solche Aussagen inkonsequent, wenn zeitgleich die eigene Bundesregierung nicht nur diskursiv, sondern ganz real Asylrechtsverschärfungen auf europäischer Ebene mitträgt. Der Unterschied zwischen Spahns Vorstoß und der GEAS-Reform auf EU-Ebene ist darin zu sehen, dass der CDU-Politiker nahelegt, die Flüchtlingskonvention selbst restriktiv anzupassen, während der europäische Asylkompromiss das Asyl- und Flüchtlingsrecht auf dem Papier stehen lässt, nur um in der Praxis die Zugänge zum Recht zu versperren.

 

In einem zweiten Schritt hat sich der Bund beim Flüchtlingsgipfel vom 10. Mai auf erhebliche Asylrechtsverschärfungen auf nationaler Ebene in Abstimmung mit den Ländern geeinigt und sich zudem die Zustimmung zur GEAS-Reform bestätigen lassen: Verlängerte Grenzkontrollen, mehr Abschiebehaft, ein verlängerter Ausreisegewahrsam, rigorose Durchsuchungsrechte der Polizei in Flüchtlingsunterkünften, das vermehrte Auslesen von Mobiltelefonen und mehr sichere Herkunftsstaaten gehören zum Maßnahmenpaket, das teilweise durch Bundestag und Bundesrat beschlossen werden muss. Die Beschlüsse greifen mitunter Maßnahmen auf, die gerade erst von Gerichten als rechtswidrig befunden wurden. Der Europäische Gerichtshof bewertete immer wieder verlängerte innereuropäische Grenzkontrollen als europarechtswidrig und das Bundesverwaltungsgericht untersagt, Mobiltelefone von Asylsuchenden anlasslos auszuwerten.

 

Die taz-Journalistin Dinah Riese kommentierte die aktuellen Entwicklungen in der Flüchtlingspolitik zutreffend: »Wem aber als Antwort auf Krieg, Folter und Verfolgung nur Zäune, Haftzentren und Grenzschutzmissionen einfallen – der braucht von einem Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik, wie die Ampel ihn versprochen hat, gar nicht erst zu sprechen. Und von Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde sollte er erst recht schweigen«. Indem die Ampel-Parteien, insbesondere SPD und Grüne, menschenrechtliche Grundsatzpositionen in Windeseile abräumen, öffnen sie das Feld des bisher Unsagbaren, sodass jemand wie Jens Spahn unverhohlen die Flüchtlingskonvention zur Disposition stellen kann. In den USA gibt es die berühmte Redewendung »Nur Nixon konnte nach China gehen«. Die dahinterstehende Logik vollzieht sich nun in der Flüchtlingspolitik, indem die Ampel-Regierung faktisch den »Masterplan Migration« umsetzt, den Ex-Bundesinnenminister Horst Seehofer stets wollte. Der größte Erfolg eines Politikers ist, wenn seine Gegner die eigene Politik fortführen.

 

Die Menschenrechtsorganisation PRO ASYL hat ausführlich dargestellt, wie sich die neue Linie der Bundesregierung auf die europäischen Außengrenzen auswirken wird. Doch nicht nur die Außengrenzen wären von den Plänen betroffen. Auch für das Innere Europas hätten die Vorhaben erhebliche Folgen. Denn wenn sich das gesamte EU-Asylrecht ändert, müssen die nationalen Asylsysteme sich daran anpassen. Wandelt die EU-Kommission die bisherige Asylverfahrensrichtlinie wie beabsichtigt in eine EU-Verordnung um, würden Spielräume der Mitgliedstaaten durch restriktive Vorgaben aus dem Europarecht verdrängt werden – dabei ist das EU-Recht aktuell in vieler Hinsicht progressiver.

 

Die Diskussion um die Grenzverfahren (Art. 41 und 41a der Asylverfahrensverordnung (Entwurf)) geht davon aus, dass diese nur an den Außengrenzen stattfinden sollen. In den EU-Hotspots finden seit dem EU-Türkei-Deal 2016 Zulässigkeitsverfahren statt, in denen am Anfang nur geprüft wird, ob für die Asylsuchenden die Türkei sicher ist. Diese Verfahren sind die Blaupause für die neuen Grenzverfahren. In solche Verfahren sollen zukünftig Antragssteller:innen aus Staaten mit einer »niedrigen Anerkennungsquote« kommen (unter 20% europaweit), jene aus »sicheren Herkunftsstaaten« sowie Personen, die über sichere Drittstaaten in die EU geflohen sind. Dabei stellen die Grenzverfahren keine vollwertigen Asylverfahren dar, denn um die Fluchtgründe der Schutzsuchenden aus ihren Herkunftsstaaten geht es nicht. Um Schutzsuchende zu registrieren, medizinischen Checks zu unterziehen und die sichere Drittstaatenregelung zu überprüfen, ermöglicht die EU-Kommission den Mitgliedstaaten sogar die Inhaftierung der Asylsuchenden.

 

Sicher ist, dass die Grenzverfahren speziell für die Außengrenzenstaaten konzipiert wurden. Aber wenn Asylsuchende an der Außengrenze nicht registriert werden, weiterreisen und es sogar bis nach Deutschland schaffen, könnte es sein, dass die Bundesrepublik in diesem Fall ebenfalls Grenzverfahren ohne rechtsstaatliche Sachverhaltsprüfung der eigentlichen Fluchtgründe durchführen müsste. Nach dem Vorschlag der EU-Kommission können solche Grenzverfahren an der Außengrenze, aber auch in sogenannten Transitzonen stattfinden. Einer Definition der Transitzone enthält sich der Entwurf, wodurch solche Verfahren an den europäischen Binnenlandgrenzen unter Umständen möglich werden. Im Jahr 2015 forderten CDU und CSU bereits Transitlager an der grünen Grenze der Bundesrepublik. Bundesinnenminister Horst Seehofer wies 2018 die Bundespolizei an, vergleichbare Verfahren bei der Rückschiebung von Asylsuchenden nach Griechenland unter Umgehung des Dublin-Verfahrens anzuwenden – bis das Verwaltungsgericht München dies untersagte. Es gab in der damaligen Debatte juristische Meinungsbeiträge, die solche Transitverfahren mit dem aktuell gültigen EU-Recht für vereinbar halten. Durch die neue Asylverfahrensverordnung werden Grenzverfahren für bestimmte Personengruppen sogar verpflichtend. Voraussetzung für Grenzkontrollen an der deutschen Binnengrenze wäre jedoch, dass dort Grenzkontrollen im Einklang mit dem Schengener Grenzkodex (Art. 25, 29) durchgeführt werden. Da sich aber die zentraleuropäischen Staaten, auch Deutschland, in den vergangenen Jahren stets »kreative Argumente« für die Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen ausdachten, dürfte dies in der Praxis kein großes Hindernis sein.

 

In Bundesländern wie Brandenburg, Sachsen oder Bayern müssten entsprechende Zentren beziehungsweise Lager mit Inhaftierung vorgehalten werden. Die Rückkehr der sogenannten AnKER-Zentren, wie beim Flüchtlingsgipfel besprochen, wirkt vor diesem Hintergrund wie ein Vorgriff auf das zukünftige EU-Asylsystem. Die Bundesregierung spricht sich in ihrem Prioritätenpapier für die Verhandlungen auf EU-Ebene zwar für Haft als ultima ratio aus, aber weder die EU-Kommission noch die Bundesregierung können plausibel erklären, wie Asylsuchende ohne Haft in Grenzverfahren festgesetzt werden sollen. In den Grenz- und Screeningverfahren gilt zudem die »Fiktion der Nicht-Einreise« (Art. 4 i.V.m. Art. 6 Abs. 3 Screening-Verordnung (Entwurf)), das heißt die Asylsuchenden gelten wie im Flughafenasylverfahren als de jure nicht eingereist und haben abgeschwächte Rechtsmittel, mit der Folge, dass fatale Fehlentscheidungen einkalkuliert sind.

 

Von den Grenzverfahren sollen Kinder unter 12 Jahren ausgenommen sein, die Bundesregierung will dies bei den Verhandlungen auf Kinder unter 18 Jahren ausweiten. Was sich in der Theorie als humane Ausnahmeregelung liest, erweist sich in der Praxis als schwierig umzusetzendes Unterfangen. Denn die Mitgliedstaaten, auch die Bundesrepublik Deutschland, müssten faktisch Alterseinschätzungen und -feststellungen vornehmen, um eine Aufnahme von Minderjährigen in Grenzverfahren auszuschließen. Solche flächendeckenden Alterseinschätzungen wurden aufgrund ihrer Fehleranfälligkeit in Deutschland aus rechtlicher, medizinischer und radiologischer Sicht bislang heftig kritisiert.

 

Mit der Zustimmung zu diesem Pakt fällt die deutsche Bundesregierung Menschenrechtsorganisationen und den Verteidiger:innen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Staaten wie Polen oder Ungarn in den Rücken, die das bisherige EU-Recht erfolgreich nutzen, um gegen die Abschottungspolitik ihrer Regierungen vorzugehen, wie zum Beispiel im Falle der ungarischen Transitzone, die der Europäische Gerichtshof als europarechtswidrig bewertete. Viktor Orbán könnte mit seiner flüchtlingsfeindlichen Politik in Zukunft weniger Probleme vor dem Europäischen Gerichtshof haben, wenn sich das neue EU-Asylsystem durchsetzt und restriktive Maßnahmen der Nationalstaaten legalisiert werden.

 

Die neue Asyl- und Migrationsmanagementverordnung (AMM-VO), die die bisherige Dublin-III-Verordnung ablösen soll, wird sich ebenfalls erheblich auf die Lage in Deutschland auswirken. Zunächst begeht die EU-Kommission den Kardinalsfehler, daran festzuhalten, dass weiterhin die Ersteinreisestaaten an den Außengrenzen für die Aufnahme, Versorgung und die Durchführung eines Asylverfahrens verantwortlich sein sollen (Art. 8 Abs. 2, Art. 21 AMM-VO (Entwurf)). Da es zugleich keine verbindliche Verteilung der Schutzsuchenden geben wird, gibt es für Staaten wie Griechenland oder Italien keinen Anreiz, die Schutzsuchenden entsprechend der europarechtlichen Verpflichtungen aufzunehmen. Da Schutzsuchenden weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen in den EU-Außengrenzenstaaten drohen, werden Asylsuchende weiter in andere Staaten wie zum Beispiel Deutschland weiterfliehen. Wenn insbesondere Vertreter:innen der Grünen aktuell argumentieren, sich in den Verhandlungen auf EU-Ebene für eine verpflichtende Verteilung einzusetzen, ist das eine Scheindebatte, denn eine solche steht nicht zur Abstimmung.

 

In den Staaten wie Deutschland, in die Asylsuchende weiterfliehen, erwartet sie bezüglich ihrer sozialen Versorgung und möglichen Rückführungen eine erhebliche Verschlechterung. Asylsuchende, die sich nicht in dem für sie zuständigen Staat aufhalten, drohen scharfe Sanktionen und ein weitgehender Ausschluss von Sozialleistungen. Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein solcher umfänglicher Ausschluss im Hinblick auf die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1 GG) nicht möglich. Die Folgen könnten zudem sozialpolitischen Sprengstoff bieten, wenn Dublin-Asylsuchende, die allen Rückführungsrufen zum Trotz in der Realität nicht schnell zurückgeführt werden können, keinen Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe erhalten und ihr Ankommen in Deutschland stark ausgebremst wird.

Denn Asylsuchende, die sich tatsächlich in Deutschland aufhalten, könnten zukünftig viel länger von einer Rückführung in die Außengrenzenstaaten bedroht sein. Bisher sieht die Dublin-III-Verordnung vor, dass der Staat sechs Monate Zeit hat, um Asylsuchende rückzuführen – danach wird der Staat des tatsächlichen Aufenthalts für das Asylverfahren zuständig. Einige Kirchengemeinden organisieren für Menschen, die von Rückführung betroffen sind, entsprechend der Fristenlänge Kirchenasyle. Die deutsche Bundesregierung setzt sich nun im Einklang mit der Kommission für eine Frist von bis zu 12 Monaten ein. Das ursprüngliche Ziel der Dublin-Verordnung, dass Asylsuchende schnell einen Zugang zu einem Asylverfahren und Klarheit über ihre Situation erhalten sollen, wird dadurch konterkariert. Von Rücküberstellungen in andere EU-Mitgliedstaaten sollen zukünftig sogar unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ohne Familienmitglieder in Europa umfasst sein können (Art. 15 Abs. 5 AMM-VO (Entwurf)), obwohl der Europäische Gerichtshof für diese Personengruppe prinzipiell annimmt, dass Rückführungen dem Kindeswohl widersprechen.

 

In Deutschland würde das neue und in Teilen alte Dublin-Regime daher zu einer verschärften sozialen Situation der Asylsuchenden, vertieften Spannungen zwischen Behörden und Zivilgesellschaft, und zu einem härteren Abschieberegime gegenüber Minderjährigen und Betroffenen in Warteschleife ohne Integrationsperspektive führen.

 

Die deutsche Bundesregierung ist auf dieses Ziel der EU-Kommission eingeschwenkt. Innenministerin Faeser versprach eine Prüfung von Asylverfahren in Drittstaaten und der Migrationsbeauftragte der Bundesregierung, Joachim Stamp, erklärte, sich um entsprechende Abkommen zu bemühen. Auch dieser Vorschlag ist nicht neu, zuletzt hatte sich der EU-Rat 2018 für solche Lager und Asylverfahren außerhalb Europas ausgesprochen, ohne dass dies in die Tat umgesetzt wurde. In Deutschland hatte Ex-Innenminister Otto Schily gegen Ende seiner Amtszeit im Jahr 2004 Asylverfahren und Lager in Afrika ins Spiel gebracht und parteiübergreifende Kritik erfahren, unter anderem von FDP-Politiker Guido Westerwelle, der dazu mahnte, die Debatte sollte wegen schwerer rechtsstaatlicher Mängel beendet werden oder Joschka Fischer, der solche Vorschläge nicht für »durchdacht« hielt.

 

Dennoch gelten Asylverfahren in Drittstaaten mitunter sogar unter progressiven Politiker:innen als gangbarer Weg, um das Leid und Sterben an den Außengrenzen zu beenden. Aus mehreren Gründen sind sie jedoch rechtsstaatlich und menschenrechtlich hoch problematisch. In Drittstaaten gibt es keine auf das europäische Asylrecht spezialisierte Anwaltschaft, die Asylsuchende vertreten könnte. Dabei zeigt sich in der Praxis, dass das Asylrecht nicht aus sich heraus wirkt, sondern um jede positive Entscheidung erheblich in individuellen Verfahren gekämpft werden muss. Ein Beispiel aus Deutschland: Im ersten Halbjahr 2022 gaben Gerichte in 40% der Asylklageverfahren den Asylsuchenden Recht und hoben negative Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf. Behörden machen Fehler und deshalb braucht es im demokratischen Rechtsstaat Korrekturmechanismen. Wenn, wie der Migrationsbeauftragte Stamp fordert, das UN-Flüchtlingshilfswerk in Lagern Asylverfahren durchführt, werden auch dort Fehler begangen. Aber gegen wen sollen die Betroffenen dann klagen? Gegen UN-Organisationen steht faktisch kein Rechtsschutz offen. Der Ethnologe Michel Agier hat in seiner Arbeit Managing the Undesirables Flüchtlingslager in Afrika untersucht und festgestellt, wie die UN sich dort – intendiert wie nicht-intendiert – an Entrechtungsstrukturen gegenüber Schutzsuchenden beteiligt. Schließlich hätte ein solches System negative ökonomische Folgen für die Regionen, in denen solche Lager entstehen sollen: Auf Geheiß der EU müssten afrikanische Grenzpolizeien striktere Kontrollen durchführen. Das passiert jetzt schon und führt in der ECOWAS-Zone zu einer Einschränkung der westafrikanischen Freizügigkeit und zerstört lokale Ökonomien, die auf die Bewegungsfreiheit angewiesen sind. Am Ende würden die Pläne der Bundesregierung neue Fluchtgründe schaffen. Und auch das Sterben von Schutzsuchenden würde nicht aufhören, sondern noch viel stärker als heute im Globalen Süden in den Wüsten stattfinden, wo die europäische Öffentlichkeit nicht mehr hinschaut. Nichts spricht dagegen, dass Asylsuchende zum Beispiel im Rahmen eines Resettlements legale Zugangswege außerhalb Europas eröffnet bekommen. Aber die Rechtsstaatlichkeit spricht dagegen, wenn im gleichen Zug individuelle Asylverfahren verhindert werden sollen.

 

Auf der EU-Ebene muss der neue Pakt bis zu den Wahlen zum Europäischen Parlament beschlossen sein, ansonsten müsste eine neue Kommission von vorne anfangen. Es ist ein schwacher Trost, dass das neue EU-Asylsystem, das die Bundesregierung unterstützt, in der Praxis scheitern wird. Denn zugleich wird die schon heute praktizierte Entrechtung von Schutzsuchenden an Europas Grenzen weitergehen und es ist zu vermuten, dass die Gewalt gegenüber Flüchtlingen sich weiter normalisiert.

 

Wer diese menschenunwürdige Abschottungspolitik scharf kritisiert, kriegt beständig vorgehalten, dann solle man doch sagen, wie es besser funktionieren könnte. Theodor W. Adorno hat in dieser »Versessenheit aufs Positive«, also der Forderung nach einer unmittelbar konstruktiven Kritik, »ein Deckbild des unter dünner Hülle wirksamen Destruktionstriebs« vermutet. »Die am meisten vom Positiven reden, sind einig mit zerstörender Gewalt«, sprich, in unserem Zusammenhang: mit dem alltäglichen Leiden und Sterben an Europas Grenzen und in den Wüsten, wo die unter dem Sand verschütteten Leichen nicht bezifferbar sind. Adorno bemerkte jedoch, dass »Kritik derart verfahren kann«, dass die »Wirklichkeiten mit den Normen« konfrontiert werden. Und: »[…] die Normen zu befolgen, wäre schon das Bessere«. Es geht Adorno also um die Verteidigung von erkämpften zivilisatorischen Mindeststandards, die in der Wirklichkeit gebrochen werden, aber die zu erfüllen, ein Ziel sein sollte. Im Falle der EU-Flüchtlingspolitik wäre das Bessere schon näher, wenn in diesem Sinne die Prinzipien der Genfer Flüchtlingskonvention tatsächlich der Maßstab des politischen Handelns sind. Das zu fordern, wäre das Minimum.

 

(Quelle: Maximilian Pichel)


Kontakt

Zuflucht - Ökumenische Ausländerarbeit e.V.

Berckstr. 27

28359 Bremen

 

Tel. : 0421 8007004

Fax: 0421 8356152

zuflucht@kirche-bremen.de

Newsletter

Unseren  monatlichen Newsletter können Sie hier abonnieren!

 

Spendenkonto

Zuflucht e.V.

IBAN: DE14 2905 0101 0011 8305 85

Swift-BIC SBREDE22XXX

 

Der Verein ist als gemeinnützig anerkannt und im Bremer Vereinsregister eingetragen unter VR 5198 HB