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MPK: Wettlauf der Schäbigkeiten

Bild: pixabay.com
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Die deutsche Politik hat ihre im Jahr 2015 ausgerufene „Will-kommenskultur“ endgültig beerdigt. In der Hoffnung, der rechtsextremen AfD Wählerstimmen abzujagen, überbieten auch die demokratischen Parteien einander in einem sich täglich weiter aufschaukelnden Wettbewerb der Abschre-ckung. Es scheint, als würden diejenigen gewinnen, die Geflüchtete am weitestgehenden entrechten und ihnen die größten Schäbigkeiten zumuten wollen. Dieser Paradigmen-wechsel schlägt sich auch in der verwendeten Sprache nieder, wenn in den Debatten durchgängig nur noch von „irregulärer Migration“ die Rede ist. Flüchtlinge sind keine „irregulären Migrant:innen“: Sie nehmen ein verfassungsrechtlich verbrief-tes Recht in Anspruch, das im Rahmen regulärer Asylverfahren geprüft wird. Wer gegen Geflüchtete hetzt und den Eindruck erweckt, ihre Vertreibung und Vergrämung sei oberste Staats-räson, legt eine Lunte an ein Pulverfass.

 

Die beabsichtigte Absenkung der Asylbewerberleistungen ist aus unserer Sicht nicht nur „integrationspolitisch kontrapro-duktiv und unter Kindeswohlgesichtspunkten bedenklich“, wie die Bundesländer Bremen und Thüringen – leider nicht Niedersachsen – zu Protokoll gegeben haben. Es ist auch unmenschlich und unvernünftig, Geflüchtete absichtlich über Jahre in Armut zu halten und ihnen erst nach 36 statt wie bisher nach 18 Monaten zumindest Leistungen auf dem Niveau der Sozialhilfe zu zahlen. Ein solcher Schritt wird die Zahl der Geflüchteten nicht verringern, aber soziale Probleme verschärfen. Dabei ist die Theorie, wonach Sozialleistungen einen vermeintlichen Pull-Effekt erzeugen, nie bewiesen worden und längst widerlegt.

 

Leistungseinschränkungen und Sachleistungen für einen Zeitraum von 36 Monaten, das hatten wir alles bis zur bahnbrechenden Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts aus dem Jahr 2012 schon einmal. Die Kürzungen sind in verfassungsrechtlicher Hinsicht mehr als fragwürdig und zeugen von Empathielosigkeit und Unkenntnis der Lebens-realität geflüchteter Menschen. Schutzsuchende Menschen werden sich nicht von der Flucht abhalten lassen, weil sie 36 statt 18 Monate eingeschränkte Leistungen erhalten. Aber der Beschluss wird, sollte er so umgesetzt werden, die soziale Not vergrößern und die soziale Ausgrenzung vertiefen. Er schließt Menschen von Maßnahmen zur Vorbereitung und Eingliede-rung in den Arbeitsmarkt aus und behindert ihre Vermittlung in Arbeits- und Ausbildungsstellen. Zudem wird ihnen im Asylbewerberleistungsgesetz eine angemessene Gesundheits-versorgung verwehrt, die gerade für Asylsuchende, die oft traumatische Gewalt im Herkunftsland oder auf der Flucht erleiden mussten, von erhebliche Bedeutung sind. Mit dem Kürzungsbeschluss ignorieren die Ministerpräsident:innen von Bund und Ländern auch die Expertise und einmütige Einschät-zung von Fachorganisationen. Über 150 Fachverbände und soziale Organisationen hatten sich Anfang November gemein-sam gegen Kürzungen am Existenzminimum ausgesprochen und stattdessen für die sozialrechtliche Gleichstellung Geflüchteter geworben.

 

Für Empörung sorgt beim Flüchtlingsrat Niedersachsen auch der beabsichtigte Verzicht auf eine – im Koalitionsvertrag der Ampel fest vereinbarte – Wiederherstellung des Rechts auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Grundge-setzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK). Es ist verstörend und zeugt von menschli-cher Kälte, wenn Politiker:innen und Parteien, die ansonsten keine Gelegenheit auslassen, die Bedeutung der Familie für den emotionalen, sozialen und wirtschaftlichen Schutz und ein gedeihliches Zusammenleben zu betonen, den vor oder während der Flucht unfreiwillig getrennten Familien über Jahre eine Trennung von ihrem Liebsten zumuten.

 

Der auf Betreiben von CDU- und Grün – regierten Ländern beschlossene Prüfauftrag für eine Externalisierung von Asylverfahren in Transitländer verdeutlicht, wie weit die Diskursverschiebung in der asylpolitischen Diskussion mittlerweile gediehen ist. Zwar hat die SPD dankenswerter-weise darauf gedrungen, dass die Genfer Flüchtlings-konvention und die Europäische Menschenrechtskonvention dabei zu achten sind. Der von den Ministerpräsident:innen gleichzeitig geforderte Fortsetzung und Umsetzung des Flüchtlingsdeals mit der Türkei, die weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch die Europäische Menschenrechts-konvention ratifiziert hat, verdeutlicht jedoch, dass „achten“ offenkundig nicht „einhalten“ bedeutet.

 

Hintergrund zu verringerten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz:

 

Bei der Erfindung des Asylbewerberleistungsgesetzes vor genau 30 Jahren hielten Bundesregierung und Parlament eine Kürzung des sozialrechtlichen Existenzminimums für zwölf Monate vertretbar, darüber hinaus aber für unzumutbar. Es könne dann mangels „noch nicht absehbarer weiterer [Aufenthalts-]Dauer nicht mehr auf einen geringeren Bedarf abgestellt werden […]. Insbesondere sind nunmehr Bedürf-nisse anzuerkennen, die auf eine stärkere Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse und auf bessere soziale Integra-tion gerichtet sind.“ (Bundestagsdrucksache 12/5008 vom 24.5.1993). Derlei Überlegungen hielten die Regierungen dennoch nicht davon ab, die gekürzten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beständig zu verlängern.

 

Nach dem Bundesverfassungsgericht hat jeder Mensch das Recht auf ein menschenwürdiges physisches, aber auch soziokulturelles Existenzminimum, das die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen soll. Ob die gegenüber dem sozial-rechtlichen Existenzminimum gekürzten Grundleistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes überhaupt mit dem Verfas-sungsrecht vereinbar sind, ist fraglich. Nachdem das Verfassungsgericht konkrete Leistungssätze des Asylbewer-berleistungsgesetzes bereits mehrfach nach oben korrigierte und Kürzungen widersprach, ist aktuell ein weiteres Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig.

 

(Quelle: nds-fluerat.org)


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