Die Mitgliedstaaten hatten im Juni und Oktober 2023 – auch mit Stimme der Bundesregierung – eine Verhandlungsposition beschlossen, die eine weitgehende Entkernung des Flücht-lingsschutzes in der EU vorsehen. Das Parlament stellte dem bisher eine Verhandlungsposition entgegen, in denen zentrale Grund- und Menschenrechten noch geachtet werden.
„Wir sind höchst alarmiert, dass die gefährliche europäische Asylrechtsreform unter Hochdruck noch dieses Jahr politisch beschlossen werden soll. Das Europaparlament darf nicht einknicken und muss die Menschenrechte in den Verhandlun-gen konsequent verteidigen“, fordert Wiebke Judith, rechts-politische Sprecherin von PRO ASYL. „Wenn sich die Mitglied-staaten mit ihren Vorschlägen durchsetzen, bleibt vom Flücht-lingsschutz in Europa kaum noch was übrig – stattdessen werden Schutzsuchende in Grenzverfahren unter Haftbedin-gungen festgesetzt und in tatsächlich unsichere Drittstaaten abgeschoben“, befürchtet Judith.
Die aktuell diskutierten Vorschläge würden die schlimmsten Aspekte der europäischen Flüchtlingspolitik verstärken, an-statt mit einer tatsächlichen Reform die eigentlichen Proble-me des europäischen Asylsystems zu lösen: mangelnde Soli-darität zwischen den Mitgliedstaaten und wachsende Miss-achtung der grundlegenden Menschenrechte.
Im Oktober einigten sich die Mitgliedstaaten als letzte Ver-handlungsposition zum Gesamtpaket der europäischen Asylrechtsreform auf ihre Position zur sogenannten Krisen-verordnung. Diese soll im Fall von Krisen, höherer Gewalt und Instrumentalisierung starke Abweichungen von den ansonsten geltenden Regeln ermöglichen. Unter anderem könnten die Grenzverfahren stark ausgeweitet werden. Insbesondere die Regelung im Fall von „Instrumentalisierung von Migrant*in-nen“ könnte in der Praxis zu mehr rechtswidrigen Push-Backs führen (auch durch eine Verbindung zu vorgeschlagenen Änderungen am Schengener Grenzkodex).
Das Konzept der Instrumentalisierung ist in der Verhandlungs-position des Europarlaments bisher gar nicht enthalten, da dies ursprünglich nicht Teil der Asylrechtsreform war, sondern in einer speziellen Verordnung nachträglich geregelt werden sollte. In einem Gutachten bezüglich der grundrechtlichen Auswirkungen, welches das Parlament in Auftrag gegeben hatte, wurde festgestellt, dass das Konzept in der Vergangen-heit – zum Beispiel in Griechenland oder Polen – zu Menschen-rechtsverletzungen geführt hat.
Während die Mitgliedstaaten verpflichtende Grenzverfahren ohne Außnahmen für Familien mit Kindern wollen, hat das Europaparlament eine Position verabschiedet, die die Durch-führung von Grenzverfahren nur optional vorsieht und außer-dem eine Ausnahme für Familien mit Kindern unter zwölf Jahre verlangt. Laut Medienberichten aber könnte das Parla-ment bezüglich der verpflichtenden Grenzverfahren bereits auf die Mitgliedstaaten zugegangen sein.
PRO ASYL hat in den vergangenen Jahren regelmäßig fest-gestellt, dass an den europäischen Außengrenzen aufgrund der dortigen Bedingungen keine fairen Asylverfahren möglich sind – falsche Entscheidungen mit potentiell fatalen Folgen sind vorprogrammiert. Es fehlt an rechtlicher Beratung und Anwält*innen. Gerade wenn Menschen unter Haftbedingun-gen festgehalten werden, belastet sie das oft so stark, dass ihre Chancen im Asylverfahren dadurch beeinträchtigt wer-den. Solche Haftbedingungen sind zu erwarten, da vorgese-hen ist, dass die Menschen während des Grenzverfahrens als „nicht eingereist“ gelten und so ihre Bewegungsfreiheit ein-geschränkt werden wird.
Damit Menschen auf der Flucht in der EU keinen Schutz erhalten, sollen sie aus der EU in sogenannte sichere Dritt-staaten abgeschoben werden. Dafür würde ihr Asylantrag als unzulässig abgelehnt und ihre eigentlichen Fluchtgründe im Herkunftsland nicht geprüft werden. Laut der Verhandlungs-position der Mitgliedstaaten sollen die Kriterien für „sichere Drittstaaten“ so stark abgesenkt werden, dass dort von Sicher-heit keine Rede mehr sein kann. Denn nicht einmal das ganze Land muss dann mehr sicher sein, und wenn es eine entspre-chende Vereinbarung zwischen der EU und dem Drittstaat gibt, soll die Sicherheit schlicht angenommen werden können. Auch müsste es in dem Land für die abgeschobene Person keinen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention geben.
Die Frage, inwieweit es bei einer Abschiebung in einen „siche-ren Drittstaat“ wie bisher eine Verbindung zwischen der aus der EU abzuschiebenden Person und dem Drittstaat geben muss, war sehr umstritten zwischen den Mitgliedstaaten. In ihrer Verhandlungsposition wird das Verbindungskriterium zwar geschwächt, ist aber weiterhin enthalten. Das Europa-parlament behält in seiner Position das stärkere Verbindungs-kriterium des aktuell gültigen Rechts bei und fordert auch höhere Standards an einen solchen „sicheren Drittstaat“. PRO ASYL hält das Konzept der „sicheren Drittstaaten“ für höchst-gefährlich, bietet es doch EU-Mitgliedstaaten Möglichkeiten, sich maßgeblich aus dem Flüchtlingsschutz zurückzuziehen und eigentlich schutzberechtigten Flüchtlingen – etwa aus Syrien oder Afghanistan – den Schutz in Europa zu verweigern.
(Quelle: Proasyl.de)