Nach acht Jahren und unterschiedlichen Vorschlägen sowie langer Verhandlungen wird die Reform des Gemeinsamen Eu-ropäischen Asylsystems (GEAS) am 10. April 2024 voraus-sichtlich final durch das Europäische Parlament beschlossen. Durch verpflichtende Grenzverfahren unter Haftbedingungen – auch für Kinder – sowie gesenkte Standards für sogenannte »sichere Drittstaaten« und zusätzliche Verschärfungen im Fall von »Krisen« stellt die Reform eine massive Verschlechterung des bisherigen EU-Asylrechts dar. Der zuständige Ausschuss des Europaparlaments hat bereits im Februar 2024 dem Kom-promiss zugestimmt, den die Mitgliedstaaten und das Parla-ment im Dezember 2023 verkündet hatten. Obwohl sich die Mitgliedstaaten mit ihren restriktiven Vorschlägen in den aller-meisten Punkten durchsetzen konnten, ist mit einer Mehrheit im Parlament für die Reform zu rechnen. Gemeinsam mit 160 anderen Organisationen appellierte PRO ASYL am Vortag der Abstimmung trotzdem ein letztes Mal an das Parlament, diese Verschärfung nicht mitzutragen.
Denn die Zustimmung des Europaparlaments zur GEAS-Re-form ist ein historischer Tiefpunkt für den Flüchtlingsschutz in Europa. Europa schottet sich immer weiter ab: Zu den schon bestehenden Zäunen, Mauern, Überwachungstechniken und Pushbacks kommen nun noch mehr Inhaftierung und Isolie-rung schutzsuchender Menschen an den Außengrenzen und neue menschenrechtswidrige Deals mit autokratischen Regie-rungen.
Was passiert konkret künftig mit nach Europa fliehenden Men-schen, wenn die Verordnungen ab 2026 – zwei Jahre nach In-krafttreten – angewendet werden? Ganz genau lässt sich das nicht vorhersagen, denn schon in den letzten Jahren sind EU-Staaten vor allem dadurch aufgefallen, das geltende Recht falsch oder gar nicht anzuwenden. Auch unterlaufen einige Regierungen schon jetzt das EU-Recht, indem sie es mit neuen Deals umgehen wollen – wie die italienische Ministerpräsi-dentin Meloni mit ihrem Albanien-Deal.
Um zu verdeutlichen, um wen und um was es geht, hat PRO ASYL basierend auf den zur Abstimmung stehenden Verord-nungen und einer realistischen Umsetzungsprognose folgen-de Einzelfälle fingiert, die in der Ausgangslage auf typischen Fluchtgeschichten beruhen. Die Angaben der Artikel und Er-wägungsgründe beziehen sich auf die jeweils auch verlinkten Textfassungen vom 9. Februar 2024.
Sie schafft es mit ihrem fünfjährigen Sohn trotz der weiterhin verbreiteten illegalen Pushbacks über die Landgrenze nach Bulgarien. Sie will Asyl beantragen, kommt aber zunächst in das neue Screening-Verfahren. Dieses ist nun für alle Personen vorgesehen, die an den Grenzen aufgegriffen werden, ohne die Einreisevoraussetzungen zu erfüllen oder nach Seenotrettung an Land gebracht werden (Art. 3 Screening-Verordnung). Während des Screenings gelten Bahar und ihr Sohn als »nicht eingereist«. Sie darf deswegen das Screening-Zentrum an der Außengrenze nicht verlassen und sich nicht frei bewegen (Art. 4 Screening-VO). In dem Zentrum wird sie von bulgarischen Grenzschutzbeamt*innen zu ihren persönlichen Daten be-fragt. Auch gibt es einen medizinischen Check (Art. 9 Scree-ning-VO). Nach sieben Tagen ist das Screening vorbei (Art. 6 Abs. 3 Screening-VO).
Da Bahar während des Screenings als Türkin registriert wurde, wird sie mit ihrem Asylantrag automatisch nach dem Scree-ning in das neue Asylgrenzverfahren weitergeleitet. Das neue Asylgrenzverfahren ist verpflichtend, wenn jemandem vorge-worfen wird, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu sein oder den Behörden zum Beispiel falsche Identitätsdokumente vorgelegt zu haben – oder wenn die Anerkennungsquote des Herkunftslandes weniger als 20 Prozent europaweit umfasst (Art. 46 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 43 Abs. 1 lit. c, f und j Asylverfahrensverfahrensverordnung). Seit dem Januar 2024 liegt die europaweite Schutzquote für das Herkunftsland Türkei bei nur noch 18 Prozent und damit knapp unter der Schwelle.
Bahar und ihr Sohn dürfen deswegen auch weiterhin nicht einreisen und sind für die gesamten drei Monate des Asyl-grenzverfahrens in dem Lager an der Außengrenze festgesetzt (Art. 44 Abs. Abs. 2, Art. 52 Abs. 2 AsylverfahrensVO) – denn eine Ausnahme für Kinder mit ihren Familien von der haftähn-lichen Unterbringung gibt es nicht. Ihr Asylverfahren soll ledi-glich priorisiert werden (Art. 45 Abs. 3 AsylverfahrensVO). Selbst die angeordnete Inhaftnahme von Kindern während des Grenzverfahrens ist nicht ausgeschlossen (Art. 13 Abs. 2 der neuen Aufnahmerichtlinie).
Statt ein reguläres Asylverfahren zu bekommen, müssen sie also ein beschleunigtes Verfahren an den Außengrenzen durchlaufen – abgeschottet von der Außenwelt. In Bulgarien wird diese Art von Schnellverfahren schon seit 2023 in einem Pilotprojekt erprobt. Anwält*innen in Bulgarien befürchten, dass sie durch die Reform künftig die Schutzsuchenden gar nicht mehr erreichen und unterstützen können.
Bahar* engagiert sich für die Rechte von Kurd*innen in der Türkei und wird zunehmend von der Polizei unter Druck ge-setzt. Als sie davon hört, dass es einen Haftbefehl wegen Un-terstützung einer »terroristischen Organisation« – ein häufig gegen die politische Opposition eingesetzter Vorwurf der poli-tischen Verfolgung in der Türkei – gegen sie gibt, beschließt sie spontan, das Land zu verlassen.
Sollten die beiden im Asylverfahren abgelehnt werden – was bei einem absehbar voreingenommenen und unfairen Verfah-ren ohne ausreichende Unterstützung trotz drohender Verfol-gung keine Überraschung wäre – können sie weitere drei Mo-nate an der Außengrenze als »nicht-eingereist« isoliert wer-den.
Für dieses neue Abschiebungsgrenzverfahren musste ganz zum Schluss der Verhandlungen noch eine eigene Verordnung geschaffen werden, um es rechtssicher zu gestalten. Sollte ei-ne Abschiebung in der Zeit nicht erfolgen, kann immer noch die Abschiebungshaft angeschlossen werden. Die Grenzver-fahren erhöhen damit die Gefahr, dass der Schutzbedarf ge-flüchteter Menschen nicht erkannt wird und sie trotz drohen-der Verfolgung abgeschoben werden.
Fadi* flieht aus Syrien, denn er ist wegen der Unterstützung von Anti-Assad-Demos in den Fokus des Geheimdienstes gera-ten. Über die Türkei flieht er nach Griechenland und schafft es, mit dem Boot auf einer griechischen Insel anzukommen. Während des Screenings wird Fadi auch nach seinem Flucht-weg gefragt, im Screening-Formblatt wird eingetragen, dass er sich nach seiner Flucht aus Syrien kurz in der Türkei aufgehal-ten hat (Art. 13 Screening-VO). Deswegen wird Fadi in das La-ger nebenan verlegt, für ein Asylverfahren einreisen darf er nicht. Denn in Griechenland gilt die Türkei weiterhin als »si-cherer Drittstaat«, laut der Asylverfahrensverordnung können Mitgliedstaaten die Grenzverfahren auch zum Beispiel auf Per-sonen anwenden, die über »sichere Drittstaaten« geflohen sind (Erwägungsgrund 60, Art. 44 AsylverfahrensVO).
Die Türkei gilt seit 2016 für Syrer*innen in Griechenland als »sicherer Drittstaat« und seit 2021 unter anderem auch für Afghan*innen, obwohl die Türkei die bisherigen Kriterien für »sichere Drittstaaten« hierfür nicht erfüllt (siehe auch hier für eine aktuelle Studie). Mit der GEAS-Reform werden die Anfor-derungen an die Sicherheit in dem Drittstaat stark herunter-geschraubt, was zumindest in Teilen sehr auf die Türkei zuge-schnitten scheint. So muss Fadi in der Türkei keinen Flücht-lingsstatus nach Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) bekom-men können, sondern es reicht, dass er dort einen sogenann-ten »effektiven Schutz« erhalten kann (Art. 58 Abs. 2 Asylver-fahrensVO) – der jedoch nicht alle Rechte nach der GFK um-fasst.
Die Türkei hat die GFK nur mit einem geografischen Vorbehalt ratifiziert, weshalb Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan ihn nicht bekommen können. Deswegen war bisher umstritten, ob die Türkei überhaupt für sie europarechtlich als »sicher« gel-ten kann. Das soll nun umgangen werden. Zudem schiebt die Türkei sogar regelmäßig in beide Länder ab, was völkerrechts-widriges refoulement ist. Das müsste – wenn die Regeln ernst genommen werden würden – auch künftig dazu führen, dass die Türkei nicht als sicher gelten kann (Art. 60 Abs. 1 lit. c Asyl-verfahrensVO). Mit der GEAS-Reform muss zudem nicht mehr das ganze Land sicher sein, Teilgebiete können ausreichen (Art. 60 Abs. 2 AsylverfahrensVO).
Durch die Reform liegt es jetzt vor allem bei Fadi zu beweisen, dass die Türkei für ihn nicht sicher ist (Art. 60 Abs. 5 lit. a Asyl-verfahrensVO). Er war allerdings nur kurz in dem Land, weil er viel Schlechtes über den Umgang mit syrischen Flüchtlingen dort gehört hat. Auch nach der Reform muss es eine Verbin-dung zu dem Drittstaat geben, aufgrund derer es sinnvoll für Fadi erscheint, in das Land zu gehen (Art. 60 Abs. 5 lit. b Asyl-verfahrensVO). Laut den Erwägungsgründen der Verordnung ist dies zum Beispiel anzunehmen, wenn sich Familienangehö-rige von Fadi in diesem Land aufhalten oder wenn sich Fadi in diesem Land niedergelassen oder aufgehalten hat (Erwä-gungsgrund 48). Sollte all dies von den griechischen Behörden als gegeben angenommen werden, dann wird der Asylantrag von Fadi als »unzulässig« abgelehnt. Was ihm in Syrien pas-siert ist, ist den Beamt*innen dann egal – für sie zählt nur, dass sie ihn in einen außereuropäischen Staat abschieben wollen.
Aber nicht nur an den europäischen Außengrenzen, sondern auch in Deutschland wird sich durch die Reform sehr vieles ändern. Die Asylverfahrensverordnung wird – sobald sie ab 2026 in Anwendung kommt – wohl die meisten Regelungen im aktuellen Asylgesetz verdrängen und ist direkt anwendbar. Wie genau die Umsetzung in Deutschland aussehen wird, das muss die Bundesregierung bis Ende 2024 in einem Umset-zungsplan festhalten. Viele Änderungen sind entsprechend der Gesetzestexte, die nun final verabschiedet werden, aber schon absehbar: Auch in Deutschland werden die neuen Screenings angewendet werden. Zum einen an den deutschen EU-Außengrenzen, was primär die Flughäfen sind. Zum ande-ren gibt es eine spezielle Norm für das Screening im Inland.
Wenn also eine Person in Deutschland von der Polizei kontrol-liert wird und kein Visum hat und auch nie an den Außengren-zen registriert (gescreent) wurde, dann ist Deutschland ver-pflichtet, ein Inlands-Screening durchzuführen (Art. 5 Scree-ning-VO). Während des Screenings muss die Person den Be-hörden »zur Verfügung stehen«, Deutschland muss Regeln erlassen, um sicherzustellen, dass die Person nicht unter-taucht. Das könnte zu Haft oder haftähnlicher Unterbringung führen.
Die Person gilt aber – im Gegensatz zum Screening an den Außengrenzen – als eingereist. Das ist wichtig, denn wenn sie einen Asylantrag stellt, kann sie im Anschluss nicht einem Asylgrenzverfahren zugeleitet werden – denn hierfür müsste sie noch als »nicht-eingereist« gelten (Art. 44 Abs. 1 Asylver-fahrensVO). Die Screening-Verordnung stellt auch extra klar, dass die Binnengrenzen auch bei der Anwendung von Grenz-kontrollen Binnengrenzen bleiben und dort aufgegriffene Per-sonen nach dem Screening im Inland behandelt werden müssen (Erwägungsgrund 18c).
Es gibt jedoch eine Sonderregelung, dass das Inlands-Scree-ning nicht angewendet werden muss, wenn die Person basie-rend auf einer bilateralen Vereinbarung direkt an der Binnen-grenze zurückgewiesen wird – das Screening findet dann in dem anderen Mitgliedstaat statt (Art. 5 Abs. 2 Screening-VO). Asylsuchende müssten hiervon jedoch ausgeschlossen sein, da auch nach dem neuen Schengener Grenzkodex ihre direkte Zurückweisung europarechtswidrig bleibt (siehe hier zur aktu-ellen Praxis der Zurückweisungen an deutschen Binnengren-zen).
Die neuen Asylgrenzverfahren sowie die Abschiebungsgrenz-verfahren werden also primär an den deutschen Flughäfen an-gewendet werden und werden das bisherige Flughafenver-fahren nach § 18a Asylgesetz ersetzen. Während das bisherige deutsche Grenzverfahren nach 19 Tagen vorbei ist, können ab 2026 die Verfahren zum Beispiel am Frankfurter Flughafen bis zu drei Monate dauern. Insgesamt können dann Personen ein halbes Jahr im Transitbereich festgehalten werden, wenn sie nach Ablehnung noch in das Abschiebungsgrenzverfahren ge-nommen werden. Fraglich ist aber, ob die bisherige Art der Unterbringung an den deutschen Flughäfen für eine solch lan-ge Zeit geeignet ist. Auch wird man genau schauen müssen, ob die Standards, die das Bundesverfassungsgericht für das Flug-hafenverfahren aufgestellt hat, im neuen Grenzverfahren be-achtet werden (siehe hier für eine Studie zum Vergleich des Flughafenverfahrens und der GEAS-Reform).
Doch es gibt eine weitere Konstellation, wann Asylsuchende in Deutschland ins Grenzverfahren kommen können. Hierfür nehmen wir nochmal das Beispiel von Bahar und ihrem Sohn, der kurdisch-türkischen Asylsuchenden, die in Bulgarien ins Grenzverfahren gekommen ist: Schon bevor die beiden ins Grenzverfahren gekommen sind, hatte die bulgarische Regie-rung bei der EU-Kommission eine Notifikation eingereicht, um als Mitgliedstaat anerkannt zu werden, in dem ein sogenann-ter »Migrationsdruck« herrscht (Art. 44d Verordnung über das Asyl- und Migrationsmanagement, AMM-VO). Seitdem dies an-erkannt wurde, stehen Bulgarien Solidaritätsmaßnahmen von anderen Mitgliedstaaten zu.
Hierzu gehört auch die Aufnahme von Asylsuchenden, wobei die meisten Mitgliedstaaten versuchen, stattdessen Geld zu zahlen. Deutschland hatte im Zuge des neuen jährlichen High Level Solidaritätsforums verbindlich zugesagt, 3.000 Asylsu-chende aus Bulgarien aufzunehmen. Insgesamt liegt der fair share Deutschlands – also der faire Anteil an den Solidaritäts-maßnahmen – anhand der Quote von Bevölkerungszahl und Bruttoinlandsprodukt bei circa 22 Prozent der benötigten Um-verteilungsplätze sowie der finanziellen Leistungen (vgl. Art. 44k AMM-VO). Dies Solidaritätsmaßnahmen sollen pro Jahr mindestens 30.000 Umverteilungsplätze und 600 Millionen Euro Finanzhilfen umfassen, die an Mitgliedstaaten gehen, die unter Migrationsdruck stehen (Art. 7c Abs. 2 AMM-VO)
Bahar und ihr Sohn werden für Deutschland für die Umvertei-lung ausgesucht, sie selbst haben kein Mitspracherecht (Art. 57 AMM-VO). In Deutschland kann das Asylverfahren von Ba-har und ihrem Sohn dann weiterhin als Grenzverfahren ge-führt werden, wofür Deutschland einen weiteren Monat Zeit zur Bearbeitung bekommt (Art. 52 Abs. 2, Art. 53 Abs. 2 Asyl-verfahrensVO). Auch über den Umverteilungsmechanismus können also Asylsuchende künftig in Deutschland ins Grenz-verfahren kommen.
Besonders relevant sind in Deutschland in den letzten Jahren stets die sogenannten Dublin-Verfahren gewesen, in denen festgestellt wird, ob ein anderer EU-Mitgliedstaat für den Asyl-antrag zuständig ist und die asylsuchende Person in den Mit-gliedstaat überstellt wird. Auch wenn es ab 2026 keine Dublin-III-Verordnung mehr geben wird, sondern eine Verordnung über das Asyl- und Migrationsmanagement, so bleiben die Grundprinzipien des Dublin-Systems bestehen. Der Mitglied-staat, in dem die asylsuchende Person als erstes eingereist ist, wird in den meisten Fällen für den Asylantrag zuständig sein (Art. 21 AMM-VO). Ein kleiner Zusatz bei den Kriterien ist nur, dass im neuen System auch in einem Mitgliedstaat erworbene schulische Qualifikationen in den letzten sechs Jahren als Zu-ständigkeitskriterium gelten (Art. 20 AMM-VO).
Auch wenn sich unter anderem die deutsche Bundesinnen-ministerin Nancy Faeser von der GEAS-Reform zu versprechen scheint, dass künftig möglichst viele Asylsuchenden an den Außengrenzen »hängen bleiben« und es gar nicht erst nach Deutschland schaffen, so scheint das nach den Erfahrungen der letzten Jahre eine wenig realistische Prognose. Schon jetzt müssten Mitgliedstaaten wie Griechenland oder Italien men-schenwürdige Bedingungen für Asylsuchende garantieren und bei festgestellter Zuständigkeit die Person zurücknehmen – in der Praxis passiert das jedoch kaum. Der Erfahrung der letzten Jahre nach wird es weiterhin gute Gründe für viele geflüchtete Menschen geben, weiter nach Deutschland zu flüchten. So auch im fiktiven Fall von Fadi:
Nachdem der Asylantrag von Fadi als »unzulässig« abgelehnt wurde, musste er noch weitere drei Monate im Abschiebungs-grenzverfahren ausharren – obwohl die Türkei gar keine Rück-führungen akzeptiert (so auch der aktuelle Stand der EU-Tür-kei Erklärung). Jetzt steht er in Griechenland vor dem Nichts, denn als offiziell abgelehnter Asylsuchender steht ihm keine Unterstützung zu. Fadi hat schon einen Onkel in Deutschland, deswegen entscheidet er sich, es nochmal in Deutschland mit dem Asylverfahren zu versuchen. Doch hier angekommen ge-rät er in die Mühlen des neuen Dublin-Systems: Die Fristen zur Kommunikation zwischen Deutschland und Griechenland sind deutlich beschleunigt. So muss Deutschland der griechischen Behörden innerhalb von nur zwei Wochen notifizieren, dass eine Wiederaufnahme von Fadi stattfinden soll (Art. 31 AMM-VO). Wenn Griechenland innerhalb von zwei Wochen keine Gründe vorlegt, warum es doch nicht zuständig ist, wird die Zustimmung zur Rückübernahme angenommen.
Ab dann läuft die sogenannte Überstellungsfrist, die bei sechs Monaten bleibt. Sollte Fadi als flüchtig gelten oder angeblich bestimmten medizinischen Vorgaben nicht folgen, die für sei-ne Überstellung notwendig sind, dann wird die Frist direkt auf drei Jahre verlängert – eine Verdopplung gegenüber der aktu-ellen Regelung bei »Flüchtigsein« (Art. 35 AMM-VO). Zudem wurden für Fadi und andere betroffene Asylsuchende die Rechtsschutzmöglichkeiten im Vergleich zur Dublin-III-Ver-ordnung verschlechtert, insbesondere soll offensichtlich aus-geschlossen werden, dass Fadi nach Fristablauf auf ein Asyl-verfahren in Deutschland klagen kann (vgl. Art. 33 AMM-VO).
Während die Frist läuft, kann Fadi in Deutschland für die nicht gewünschte Weiterwanderung bestraft werden, indem seine Sozialleistungen gekürzt werden (Art. 10 AMM-VO). Dies ist so ähnlich schon in § 1a Abs. 7 Asylbewerberleistungsgesetz in Deutschland vorgesehen, wobei schon diese Leistungsein-schränkung verfassungsrechtlich höchst fragwürdig ist.
Für Fadi würde noch eine neue Regelung gelten: Für Personen, die im Asylgrenzverfahren abgelehnt wurden, hört die Zustän-digkeit des Mitgliedstaates 15 Monate nach ergangener Ableh-nung auf zu gelten. Fadi kann also 15 Monate nach der Ableh-nung im griechischen Grenzverfahren doch einen neuen Asyl-antrag in Deutschland stellen, der dann hier als neuer Asyl-antrag bearbeitet werden muss (Art. 27 Abs. 1a AMM-VO).
Durch die Reform wird es zudem zum ersten Mal eine Krisen-Verordnung geben, die den Mitgliedstaaten verschiedene Aus-nahmen von den dann eigentlich gültigen Regeln erlaubt – und absehbar unerträglichen Zuständen an den Außengren-zen weiter Vorschub leisten wird. Ob es eine Krise in einem Mitgliedstaat gibt, der solche Ausnahmen erlaubt, wird von der Kommission auf Antrag des Mitliedstaates festgestellt und in Entscheidungen der Kommission sowie einem Umsetzungs-rechtsakt des Rates festgehalten. Darin muss stehen, warum die Anwendung der Krisen-Verordnung notwendig und ver-hältnismäßig ist, ab und bis wann die Ausnahmen gelten sollen – aber nicht zwingend, welche Ausnahmen angewendet werden (Art. 3 Krisen-VO). Generell sollen die Ausnahmen zu-nächst nur für drei Monate angewendet werden, was aber verlängert werden kann. Insgesamt soll ein solcher »Krisen-Zustand« nicht länger als zwölf Monate gelten (Art. 5 Krisen-VO).
Sollte zum Beispiel Bulgarien in dem Zeitraum, in dem Bahar mit ihrem Sohn ihren Asylantrag stellt, im »Krisenmodus« sein, so kann sich einiges für sie ändern. Erstens hätte Bulga-rien dann vier Wochen Zeit, um ihr Asylgesuch zu registrieren (Art. 10 Krisen-VO). Was harmlos klingt, kann in der Praxis zu einer stärkeren Pushback-Praxis führen, wenn die schutzsu-chenden Menschen länger nicht staatlich erfasst werden. Zweitens kann Bulgarien das Grenzverfahren variieren: Wenn es sich um eine Krise wegen sehr hoher Ankunftszahlen oder »höherer Gewalt« handelt, dann kann Bulgarien den Schwel-lenwert für die Quote, bei der das Grenzverfahren verpflich-tend ist, entweder auf 5 Prozent senken – dann wären Bahar und ihr Sohn nicht im Grenzverfahren – oder auf 50 Prozent erhöhen, also deutlich mehr Menschen ins Grenzverfahren nehmen. Wenn es keine ausreichenden Kapazitäten gibt, dann müsste Bulgarien auch das Kriterium der Quote generell nicht mehr anwenden (Art. 11 Abs. 2–4 AMM-VO). Wenn es jedoch um den Krisenfall einer Instrumentalisierung geht, dann kann Bulgarien das Grenzverfahren auf alle Asylsuchenden auswei-ten, die von einer anderen Regierung oder nicht-staatlichen Akteuren »instrumentalisiert« werden (Art. 11 Abs. 6 AMM-VO). Nur für diesen Fall ist eine Ausnahme von Familien mit Kin-dern unter zwölf Jahren vorgesehen (Art. 11 Abs. 7 lit. a AMM-VO).
Man merkt: Von einem wirklich gemeinsamen Europäischen Asylsystem bleibt trotz einer ursprünglich gewünschten stär-keren Angleichung der Verfahren in den Mitgliedstaaten wenig übrig, denn durch die Krisen-Verordnung können ständig unterschiedliche Sonderregelungen gelten. Das betrifft auch die Überstellungsfristen und Solidaritätsmaßnahmen.
Eine Zustimmung des Europaparlaments zur Reform des Ge-meinsamen Europäischen Asylsystems kurz vor der Europa-wahl ist extrem bitter. Aus dem Parlament kamen während des Reformprozesses verschiedene positive Vorschläge, die jedoch in den Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten fast alle vom Tisch gefegt wurden. Trotzdem wird eine Mehrheit der Parla-mentarier*innen den massiven Verschärfungen absehbar zu-stimmen.
Für PRO ASYL und unsere Partnerorganisationen in ganz Euro-pa geht der Kampf natürlich weiter. Die kommenden zwei Jah-re bis zum Start des neuen Systems müssen genutzt werden, um Strategien zur weiteren effektiven Unterstützung von in Europa Schutzsuchenden zu entwickeln und der Isolations- und Abschottungsstrategie der EU entgegenzuwirken. Wir las-sen auch künftig Schutzsuchende wie Bahar oder Fadi nicht im Stich und werden rechtlich und politisch für ihre Rechte kämpfen!
*Die Fälle in diesem Text sind fiktiv, aber nah an aktuellen Praxisfällen entwickelt.
(Quelle: proasyl.de)