Der Flüchtlingsrat Niedersachsen äußert sich entsetzt:
„Die letzte Kirchenasylräumung vor 2024 fand in Niedersach-sen 1998 in Glandorf-Schwege bei Osnabrück statt. Seither verzichteten alle Landesregierungen auf ein gewaltsames Ein-dringen in Kirchenasylräume. Es brauchte offenkundig eine rot-grüne Landesregierung, um dieses Tabu in Niedersachsen zu brechen. Zur Durchsetzung der verkündeten „Abschie-bungsoffensive“ werden die letzten Hemmungen abgelegt.“
Selbstverständlich ist die Kirche kein rechtsfreier Raum. Aber die bisherigen Landesregierungen verzichteten aus guten Gründen darauf, gewaltsam in kirchliche Räume einzudringen:
„Wenn die Vollzugsbehörden aus Respekt vor dem besonde-ren Charakter dieser Orte auf die Durchsetzung der gesetzlich gebotenen Zwangsmaßnahmen gegen Personen verzichten, verzichtet der Staat einseitig darauf, zum Zweck der Abschie-bung unmittelbaren Zwang gegen Personen in bestimmten kirchlichen Räumen anzuwenden“, erklärte Innenminister Uwe Schünemann (CDU) 2007 auf Anfrage der Grünen im Landtag. Ähnlich argumentierte Innenminister Boris Pistorius (SPD) am 20. März 2015:
„Wenn in Einzelfällen Kirchengemeinden aus Gewissens-gründen in ihren kirchlichen Räumen Ausreisepflichtigen vorübergehend Unterkunft gewähren, so verzichten die zu-ständigen Behörden aus Respekt vor den geschützten und der Glaubensausübung dienenden Räume der Kirchen, Klöster und Pfarrhäuser darauf, in diesen Räumen Verwaltungs-zwangsmaßnahmen zu vollziehen. Diese Haltung hat sich in den vergangenen 20 Jahren als konfliktlösend bewährt. Die Landesregierung sieht deshalb keine Veranlassung, ihre grundsätzliche Haltung zum Umgang mit Kirchenasylfällen zu ändern und weiterhin im engen Dialog mit den Kirchen blei-ben.“
Zuständige Ausländerbehörde für Dublin-Abschiebungen ist das BAMF, eine Bundesbehörde. Die niedersächsische Landes-aufnahmebehörde ist allerdings nötig, um in Amtshilfe tätig zu werden: Die niedersächsische Behörde ist zuständig für die Umsetzung von Abschiebungen. Sie hat den Flug gebucht, den Durchsuchungsbefehl beantragt und die Kirchenasylräumung durchgesetzt. Es ist insofern absurd zu behaupten, nieder-sächsische Behörden seien für die Abschiebung nicht verant-wortlich: Niemand hat die niedersächsische Landesregierung gezwungen, den Konsens der letzten 26 Jahre zu brechen, dass Polizei nicht gewaltsam in Kirchenräume eindringt, um Schutzsuchende festzunehmen.
Schon am 25. April 2024 hat es den Versuch einer Abschiebung aus dem Kirchenasyl in Schwanewede gegeben: Ein syrischer Flüchtling, der auf seiner Flucht durch lettische Behörden misshandelt und tagelang inhaftiert worden war, wurde von zwei Polizeibeamt:innen aus der Kirche abgeholt und sollte nach Lettland abgeschoben werden. Die Abschiebung wurde dann aber aufgrund eines Zusammenbruchs abgebrochen und die Rückkehr ins Kirchenasyl gestattet. Vom niedersäch-sischen Innenministerium gab es die Zusage, den Sachverhalt aufzuarbeiten und das Gespräch mit den Kirchen zu suchen.
Bei dem neuerlichen Bruch des Kirchenasyls handelt es sich insofern nicht um ein „Versehen“, sondern um die Durchset-zung einer neuen, restiktiven Linie im Umgang mit Kirchen-asyl. Die Landesaufnahmebehörde ist planvoll vorgegangen, hat einen Durchsuchungsbeschluss herbeigeführt und hat die Kirchengemeinde und das Pfarrhaus systematisch abgeriegelt. Das Innenministerium hat es jederzeit in der Hand, Abschie-bungen anzuordnen oder zu stoppen. Von der niedersäch-sischen Innenministerin Daniela Behrens hat es auch nach dem Vorfall in Schneverdingen eine Weisung, Kirchenasyl auch weiterhin zu achten, offenkundig nicht gegeben. Weder von der SPD noch von den Grünen hat es offenkundig die Be-reitschaft gegeben, die Frage des Umgangs mit Kirchenasyl zu einer politischen Grundsatzfrage zu machen.
In den letzten Monaten hat es auch in anderen Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen) teils spek-takuläre Fälle einer Räumung von Kirchenasyl gegeben. Die neue, repressive Linie im Umgang mit Kirchenasyl soll wohl vor allem nach innen „Härte“ signalisieren und spiegelt inso-fern den Rechtsruck in der innenpolitischen Diskussion wider: Statt den Rechtsextremen Paroli zu bieten, läuft die Politik ih-ren Parolen hinterher. Gemessen an der Gesamtzahl der Fälle spielt Kirchenasyl nur eine untergeordnete Rolle. Die Bun-desarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche stellt zu Recht fest:
Im Jahr 2023 wurden laut BAMF bundesweit 2.065 Kirchen-asylfälle registriert. Die Zahl der Übernahmeersuchen an an-dere Mitgliedstaaten betrug 74.622. Tatsächlich überstellt wurden jedoch lediglich 5.053 Personen. Damit wird deutlich, dass Kirchenasyl kein bestimmender Faktor bei den nicht erfolgten Rückschiebungen ist.
(Quelle: nds-fluerat.org)