Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) hat heute in Berlin sein Jahresgutachten „Kontinuität oder Pa-radigmenwechsel? Die Integrations- und Migrationspolitik der letzten Jahre“ vorgestellt. Wir dürfen es Ihnen hiermit zukom-men lassen.
In seinem 15. Jahresgutachten erläutert der SVR die migra-tions- und integrationspolitischen Maßnahmen der letzten fünf Jahre und zeigt auf, wo es weiteren Handlungsbedarf gibt.
Zentrale Ergebnisse und Empfehlungen lauten:
- In der Analyse der integrations- und migrationspolitischen Entwicklungen zeigt sich das schon aus früheren Perioden bekannte Ringen um eine Balance zwischen Öffnung und Restriktion, Integrationsförderung und Zu-zugssteuerung. Migration in Deutschland ist also seit Lan-gem Normalität und muss gestaltet werden.
- Die EU zeigte sich in der Krise handlungsfähig: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sie mit der erstma-ligen Aktivierung der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz schnell und umsichtig reagiert. Die Einigung auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsys-tems (GEAS) gibt Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Der SVR mahnt jedoch an, dass bei der Umsetzung die men-schen- und flüchtlingsrechtlichen Standards gewahrt bleiben müssen. Sie sind der zentrale Maßstab für das Gelingen der Reform. Das gilt besonders für die neu ver-einbarten beschleunigten Grenzverfahren für bestimmte Gruppen.
- Der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel hat zu einer vergleichsweise starken Liberalisierung im Bereich der Erwerbsmigration geführt. Der SVR begrüßt, dass der Arbeitsmarkt im Zuge der Weiterentwicklung der Fach-kräfteeinwanderung auch für Personen geöffnet wird, die keine nach deutschen Standards anerkannte Qualifika-tion nachweisen können. Zugleich warnt er vor einer Schwächung des Arbeitnehmerschutzes – das gilt vor allem für den Niedriglohnsektor. Auch sind die Regelun-gen komplex; das könnte die Behörden bei der Umset-zung fordern.
- Das neueingeführte Chancen-Aufenthaltsrecht ist aus integrationspolitischer Sicht sinnvoll, wirft aber ord-nungspolitische Fragen auf, da die Grenzen zwischen Asyl- und Erwerbsmigration weiter verwischt werden. Effekte der Änderungen sollten deshalb wissenschaftlich begleitend erforscht werden.
- In der Asylpolitik hat Deutschland in den letzten Jahren einen Balanceakt vollzogen. Programme der Integrations-förderung wurden mit Maßnahmen kombiniert, die die Rückführung erleichtern sollen. Abschiebungen sind je-doch nur als Ultima Ratio durchzuführen; die selbstän-dige geförderte Ausreise ist vorzuziehen. Zudem braucht es wirkungsvolle Migrationsabkommen, bei denen auch die Interessen der Herkunftsländer berücksichtigt wer-den.
- Angesichts der steigenden Zahl von Schutzsuchenden hat der Bund die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Flüchtlingsunterbringung angepasst und u. a. die Wohn-sitzauflage entfristet. Es hat sich gezeigt, dass dies hem-mend auf Integration wirkt. Der SVR empfiehlt, dass die Flüchtlinge stattdessen so auf die Kommunen verteilt werden, dass ihre Bedürfnisse und Kompetenzen zu den Lebensbedingungen und Arbeitsperspektiven vor Ort passen.
- Eine Ursache für Aufnahmeengpässe sind grundsätzliche Infrastrukturprobleme. Für eine nachhaltige Lösung muss die Politik die allgemeinen Rahmenbedingungen verbes-sern, etwa auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungsbereich und in der Verwaltung. Zuwanderung verursacht die strukturellen Probleme in der Regel nicht, sie macht sie aber sichtbar.
- Im Bildungsbereich zeigt sich, dass Kinder und Jugend-liche der zweiten Generation zunehmend zu den Kindern und Jugendlichen ohne Zuwanderungserfahrung auf-schließen. Anlass zur Sorge gibt jedoch das schlechte Abschneiden vieler Kinder und Jugendlicher mit eigener Zuwanderungserfahrung, insbesondere jener mit Flucht-hintergrund. Politisch Verantwortliche sollten hier schnell handeln und die Regelsysteme so ausgestalten, dass sie einen chancengleichen Zugang ermöglichen und her-kunftsbedingte Startnachteile ausgleichen. Dafür braucht es mehr qualifiziertes Personal und weitere Fortbildungs-maßnahmen.
- Mit der Anfang 2024 beschlossenen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts werden insbesondere aufgrund der generellen Hinnahme von Mehrstaatigkeit wesentliche Einbürgerungshürden beseitigt. Um das im neuen Gesetz vorhandene Potenzial optimal nutzen zu können, müssen die zuständigen Behörden mit der Umsetzung aber Schritt halten können. Dass für Staatenlose keine Rege-lung gefunden wurde, ist aus Sicht des SVR eine verpasste Chance. Auch empfiehlt der Rat weiterhin zu prüfen, wie die Nachteile einer unlimitierten Weitergabe der deut-schen Staatsbürgerschaft über Generationen hinweg ver-mieden werden können.
Es sind rasante und herausfordernde Entwicklungen, die der SVR in den vergangenen fünf Jahren beobachtet und im Rah-men seiner wissenschaftlichen Analysen beratend begleitet hat. Im Bereich Migration und Integration wurden außeror-dentlich viele Veränderungen auf den Weg gebracht. Zugleich ist die Umsetzung von Gesetzen durch die Verwaltungen in Bund und Ländern aber oft zu langsam und zu bürokratisch; die Regelungen erweisen sich häufig als zu kompliziert. Hier sind die gesetzgebenden Organe gefordert: Sie sollten bei der Entwicklung neuer Regelungen die Umsetzung stärker berück-sichtigen und dafür sorgen, dass das Recht transparenter und verständlicher wird.
Das SVR-Jahresgutachten 2024, ein Faktenpapier, die Presse-information sowie weitere Informationen können Sie hier herunterladen.
(Quelle: svr-migration.de)