Die Synodepräses der Evangelischen Kirche Deutschlands, Anna-Nicole Heinrich, 28, wehrt sich gegen den Vorwurf, das Kirchenasyl zu missbrauchen.
Von Alexander Schreiber
15.11.2024 • aus DER SPIEGEL 47/2024
SPIEGEL: Frau Heinrich, Ihre Synode ermahnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), sich beim Kirchenasyl an Vereinbarungen zu halten. Was werfen Sie dem Amt vor?
Heinrich: Wir kritisieren zwei Dinge. Erstens erkennt das Bamf immer weniger humanitäre Härtefälle an. Die Dossiers, in de-nen wir die Fälle begründen, werden in fast allen Fällen abge-ehnt. Das Bamf nutzt kaum noch seine Ermessensspielräume im Sinne von Gerechtigkeit und Humanität.
SPIEGEL: Kirchenasyl hat keine Gesetzesgrundlage, aber der Staat toleriert es in der Regel. In einer Abmachung von 2015 hat sich das Amt verpflichtet, die Fälle von Menschen im Kir-chenasyl erneut zu prüfen.
Heinrich: Das Amt setzt uns zu kurze Fristen zur Begründung der Fälle. Oft reicht die Zeit nicht, um etwa ärztliche Gutachten einzuholen, warum eine Abschiebung gesundheitsgefährdend wäre.
SPIEGEL: Was ist Ihre zweite Kritik?
Heinrich: In den letzten Monaten wurden immer wieder Kir-chenasyle gewaltsam beendet. Das geht nicht.
SPIEGEL: Sind Kirchen für Geflüchtete noch sicher?
Heinrich: Die Gemeinden gewähren das Kirchenasyl nicht leichtfertig. Es ist die Ultima Ratio, für die Geflüchteten die letzte Möglichkeit auf Sicherheit. In diese Schutzorte dringen Polizisten ein. Jedes Kirchenasyl, das der Staat gewaltsam be-endet, ist eines zu viel.
SPIEGEL: Sie empörten sich jüngst, dass ein Afghane aus Ham-burg nach Schweden abgeschoben wurde. Welche Gefahr für Leib und Leben, vor der das Kirchenasyl ja schützen soll, droht in Schweden?
Heinrich: Dem Mann drohte eine unzureichende Gesundheits-versorgung, weil Schweden Flüchtlinge nur noch minimal me-dizinisch versorgt. Außerdem drohte ihm dort auch eine Ab-schiebung, etwa nach Afghanistan.
SPIEGEL: Die Mehrheit der Deutschen befürwortet Abschie-bungen auch nach Afghanistan. Sind das keine guten Chris-ten?
Heinrich: Hier verschiebt sich gerade was. Manche Politiker befördern eine extreme Stimmung, versprechen unrealistische Lösungen. Das erzeugt nur weitere Politikverdrossenheit. Deutschland darf Menschen nicht in Folterstaaten abschieben. Zum Talibanregime unterhält die Bundesregierung deshalb auch keine Beziehungen. Wir müssen vielmehr darüber reden, wie wir auch für abgelehnte Asylbewerber mehr Bleibemög-lichkeiten schaffen können.
SPIEGEL: Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) wirft den Kirchen Regelbruch vor: Sie würden ihr Asyl ausnutzen, um die Überstellungsfrist bei Dublin-Fällen zu reißen. Für diese ist zu-nächst ein anderes EU-Land zuständig, nach sechs Monaten jedoch Deutschland. Was entgegnen Sie?
Heinrich: Das weise ich zurück. Für Bedürftige da zu sein, ist existenziell für das Wesen unserer Kirche. Der Rechtsstaat soll-te froh darüber sein, denn das Kirchenasyl sichert ihn auch ab. Jetzt, wo die politischen Debatten heißer werden und schnelle Verschärfungen kommen, steigt die Gefahr für Fehler in den Asylverfahren. Das Kirchenasyl ist ein Zwischenraum, in dem alle noch mal auf strittige Härtefälle schauen können. Das ist auch ohne Gesetzesgrundlage legitim.
SPIEGEL: Sie mischen sich gerne in politische Debatten ein, was nicht jedem in Ihrer Kirche gefällt. Kann sich die Kirche angesichts der vielen Austritte noch so viel Kontroverse leisten?
Heinrich: Ich habe keine politische, sondern eine Glaubens-agenda. Wir führen Debatten nicht aus Kalkül um Mitglie-derzahlen. Das Eintreten für Menschlichkeit ist keine Kontro-verse.